Isabel
13. Mai 2025
Gregor: Seit wann bist du in der Sonntagstraße?
Isabel: Ich bin im Sommer 2000 in die Sonntagstraße gezogen. Hausnummer 27, eine Zweier-WG. Damals auf WBS, von Lichtenberg kommend, wo ich aufgewachsen bin. Irgendwann ist meine Freundin aus der WG ausgezogen und ich konnte mir die Wohnung alleine nicht mehr leisten. Dann hat sich in der 26 etwas angeboten. Vierter Stock, Ofen, 37 Quadratmeter. Und ab 2001 war ich in der Sonntag 26.
G: Wie sah es damals hier aus?
I: Vor 25 Jahren, gab es mehr Freiräume. Mir gefiel, dass ich aufs Dach konnte, dass es mehr ältere Menschen in der Straße gab, dass die alten Bäume mit all den verschiedenen Vögeln, noch standen. Viele Wohnungen, nicht nur hier in der Straße, standen damals leer. Das lag auch an der niedrigen Wohnqualität. Der Komfort war unter jedem Standard. Teilweise hatten die Wohnungen noch nicht mal Kohleöfen. In der Wohnung unter mir gab es nur einen sogenannten Allesbrenner. Man konnte nicht stabil heizen. Man hatte keine Dusche, die Leute haben daher Badewannen aufgestellt und etwas improvisiert. Hier im Haus haben einige alte Leute gewohnt. Viele Studentinnen und Studenten, aber auch Junkies und Leute, die schwere Alkoholprobleme hatten. Ich weiß noch, im Hinterhof gab es eine kleine Welpenzucht. Von einem Typen der recht drogenaffin war und immer sehr junge Frauen bei sich hatte. Der hatte die Schäferhundzucht, mit den Welpen im Hinterhof auf der Gemeinschaftsfläche. Trotzdem: es war toll, dass ich damals in meinem Kiez bleiben konnte. Dass es hier noch Wohnungen gab, auch für Leute mit weniger Geld. Ich habe dann 217 € bezahlt, natürlich kalt, weil ich musste ja selber heizen. Und fit war ich, Treppensteigen konnte ich. Toll war auch, dass man auf dem Dach spazieren gehen konnte. Der Dachboden war voll die Müllhalde und man sah dort noch Sachen aus Vorkriegszeiten. Aber auf dem Dach oben, da hatte man einen super schönen Ausblick über die Häuser. Wenn man sich im Sommer abends aufs Dach gelegt hat, dann kamen die Schwalben und haben einen fast touchiert. Man konnte bis zum Übereck laufen. Dort wunderschöne Sonnenuntergänge und sogar astronomische Spektakel beobachten - beispielsweise den Venustransit. Und ich konnte vorne am Ostkreuz Straßenmusik machen, damals als das Ostkreuz noch ganz anders war. Es gab eine Backsteinbrücke, die hatte richtig Patina. Mir kam es manchmal so vor, als wäre ich an einer Brücke über einen Fluss. Das Übereck hatte lange geöffnet und es gab spontane Musiksessions in der Straße mit Bands, die von der Probe kamen und hier ihre Instrumente nochmal ausgepackt haben. Das Ostkreuz hatte eine krasse Atmosphäre. Alles war beklebt und besprüht. Es war bunt und inspirierend und auch rau. Es gab nur wenige Restaurants, aber an einen Falafelladen kann ich mich gut erinnern, der war lange wie mein Wohnzimmer. Ein Pionier damals. Er hatte spezielle Teller, riesig groß - und man wurde eingeladen, sich zum Essen die Schuhe auszuziehen.
Was nicht so gut war? Als es draußen -15 °C hatte, waren es 15 °C in meiner Wohnung. Trotz Heizen. Also Schreibtisch an den Ofen gestellt, Bett an den Ofen. Es war kalt. Ich hatte auch im Bad keine Heizung. Mein Onkel hat mir irgendwann eine Stallheizung eingebaut. In der Küche, wenn mir kalt war, hab ich den Gasofen angemacht. Also das war schon eine Herausforderung. Ich habe damals an der Uni Tontechnik gemacht und war manchmal nächtelang am Arbeiten. Nach meinen 20-Stunden-Schichten kam ich morgens um sechs nach Hause und hatte hier ein Riesengedöns, Riesenparty usw. Das war auch auf einer persönlichen Ebene, sagen wir mal, schwierig.
G: Du hast viele Bilder von Vögeln, die du dir im Hof fotografiert hast. Wie hat sich die Stadtnatur verändert, seit du hier bist?
I: Leider wurde die Natur zu wenig geschützt. Die großen Bäume bei uns im Hof wurden gefällt - das ist ein großer Verlust für mich. Die Bäume und die Tiere die darin gewohnt haben, waren meine Mitbewohner. Sie wurden verdrängt…
G: … wie die Senioren, die an dieser Stelle ihren Kiosk hatten…
I: …genau! Die Bäume im Hof und vorne an der Ecke, das war unser Lebensraum. Menschen, Tiere und Pflanzen in Gesellschaft. Ich habe unglaublich viele verschiedene Vögel fotografiert, und ich konnte am Rauschen der Blätter erkennen, welche Jahreszeit es ist. Wenn der Winter kam, der Wind durchzog, das Pfeifen. Wenn der Frühling kam hörte es sich an wie ein kleines Meeresrauschen. Und im Sommer wie stürmisches Meer - das ist jetzt alles weg. Der Specht kommt mich nicht mehr besuchen. Der Eichelhäher ist weg, das Eichhörnchen, das immer vorbeikam - sogar zu mir auf den Balkon.
G: Was sind deine Lieblingsorte in der Sonntagstraße?
I: Gut gefällt mir der Buchladen InterKontinental direkt bei uns im Haus. Die Themen, mit denen man sich dort beschäftigt, interessieren mich sehr und ich kenne eine Autorin, die im InterKontinental Verlag veröffentlicht hat. Zu dem Laden und dem Verlag gehört jetzt auch das Bistro, direkt nebenan. Ich wünsche viel Erfolg!
G: Ich auch!
I: Letztes Jahr bin ich nach einer langen Reise spät in der Nacht wieder in der Sonntagstraße angekommen, es war schon zwei Uhr. Bei meinem Lieblings-Imbiss war gerade Feierabend. Die Verkäufer haben mich erkannt und mir zugerufen: „Da bist du ja wieder“. Und, ja, ich hatte Hunger! „Habt ihr noch was?“ „Nein, aber für dich machen wir noch mal auf.“ Ich habe etwas zum Essen bekommen und der Laden war plötzlich wieder voll. Ich habe den Jungs meine Reiseerlebnisse erzählt und es war eine richtige schöne Rückkehr. Wie wenn einem die Mutter noch etwas zu Kleines zubereitet und man feststellt: man ist wieder zuhause. Also der Orient in der Hausnummer 4 ist mehr als nur mein Stammladen. Was ich auch sehr schätze und was zu meinem Zuhause-Gefühl gehört, ist das zweite Restaurant bei uns im Haus: das Sora. Es hat genau in der Zeit aufgemacht, als meine Mutter gestorben ist und für alle, die mir damals beim Umzug geholfen haben, war das der Treffpunkt. Ich habe die Helfer dort eingeladen als Dankeschön. Ich habe jahrelang immer dasselbe bestellt - die Suppe Nr 2. Und wo man gut essen kann, da fühlt man sich auch zuhause.
G: Was arbeitest du in der Sonntagstraße?
I: Ich habe vor zehn Jahren angefangen, Kindern Musik zu unterrichten. Mittlerweile hauptsächlich hier im Kiez. Und sogar hier im Haus unterrichte ich drei Kinder. Das bringt Nähe zu den Menschen und es ist schön, die Kinder aufwachsen zu sehen. Aber ich fahre auch zum Gesundbrunnen oder bin in Lichtenberg. Es sind 30 Leute. Seit der Zeit der Corona-Lockdowns versuche ich die Kinder über die Musik zu verbinden. Ich habe damals Treffen organisiert, auf denen die Kids zusammen Musik gemacht haben. Einmal im Jahr gibt es im Lovelite unser Kinderkonzert - da hoffe ich, dass es immer mehr zu einem Knotenpunkt wird für alle Kids, die Musik machen wollen. Ich will den Kindern zeigen, wie man sich mit Musik vernetzen kann, dass es eine Brücke über Grenzen gibt. Das man zunächst nicht mal die gleiche Sprache sprechen muss. Wenn du einen Rhythmus halten kannst und zuhörst, was dein Gegenüber macht, dann entsteht eine Verbindung. Mir geht immer das Herz auf, wenn ich mit jemand gut Musik machen kann. Das ist ein bisschen wie Verlieben.
G: Welche Instrumente unterrichtest du?
I: Geige, Klavier, Gitarre, Bass, Ukulele, Flöte. Und Glockenspiel, ein bisschen zum Reinkommen. Mein erstes Instrument ist aber Geige. Das beherrsche ich richtig gut. Von Klavier und Gitarre beherrsche ich Grundlagen, sodass ich diese weitergeben kann. Ansonsten, was z. B. Bass betrifft, da bin ich eher wie ein Sparringpartner. Da zeige ich, worauf es ankommt. Und am Ende müssen die Leute selber üben und lernen. Ich kann draufgucken. Ich sage aber allen: Wenn ihr Ambitionen habt, in die Philharmonie zu kommen oder professionell Musik zu machen, dann lernt bei mir die Grundlagen und schaut dann nach jemandem, dessen Unterricht strenger ist. Mit etwas mehr Drill. Was ich gut kann: ich kann den Kinder die Lust an der Musik nicht versauen. Das ist mein Anspruch, und da stelle ich mich individuell auf jeden ein. Die meisten Kinder üben zuhause nicht und so üben sie eben bei mir - das funktioniert so gut, dass manche schon seit 10 Jahren bei mir üben.
G: Für das Straßenfest hast du ein Lied geschrieben, in dem es um die Sonntagstraße geht. Wie kam es dazu?
I: Als ich hergekommen bin, vor 25 Jahren, da hatte ich 3, 4, 5 Bands. Es sind mit dem Alter immer weniger geworden. Bis ich schliesslich gar keine Band mehr hatte. Da hat mich Olaf angequatscht, in der Zeit als er das Straßenfest „Ostkreuz bleibt bunt“ vorbereitet hat. Er hat mich gefragt, ob ich auftreten will. Ich hatte keine Lieder und keine Band - aber viele Leute, mit denen ich regelmäßig Musik mache. Und so ist das Lied "Oh Sonntagstraßeee“ entstanden. In dem Text erzähle ich ein bisschen meine Geschichte, was ich hier in der Straße gesehen und erlebt habe. Ich stelle euch den Text gerne zur Verfügung - dann können alle mitsingen.
Olaf
17. April 2025
Gregor: Schön, dass ich dich nach sechs Jahren wieder für meinen Blog interviewen kann. Im März 2019 war dein Sohn mit auf dem Foto - damals noch ein Teenager…
Olaf: Stimmt, du würdest ihn nicht wiederkennen. Er ist jetzt ein junger Mann und studiert. Er ist aber ab und zu noch bei uns in der Sonntagstrasse.
G: Seit wann wohnst du hier, und was arbeitest du in der Sonntagstrasse?
O: Ich bin seit 2014 hier und arbeite auch oft von zu Hause. Obwohl ich ein Büro habe – das hat sich so ergeben, wegen den Kindern. Ich bin Architekt, mache aber auch andere Dinge. Zum Beispiel organisiere ich zurzeit ein Strassenfest: „Ostkreuz Bleibt Bunt“.
Wir wollen zeigen, wie viele kreative Personen und Initiativen es hier im Kiez gibt – und wie die miteinander vernetzt sind. Der Kiez zeichnet sich auch dadurch aus, dass es hier eine hohe Dichte an Leuten gibt, die mitgestalten wollen und sich engagieren. Eine Frau aus unserem Haus hat sogar extra ein Lied geschrieben für das Strassenfest – wir sind super gespannt!
Das Fest findet am 8. Mai statt, also zum 80. Jahrestag der Befreiung von Krieg und Faschismus. Es geht von 13:30 Uhr bis 21:30 Uhr, auf dem Annemirl-Bauer-Platz und auch in der Lenbachstraße. Die Bühne steht direkt vor dem Übereck. Wir haben ein durchgehendes Bühnenprogramm, hauptsächlich ist Musik geplant, aber auch Wortbeiträge. Es kommen ganz unterschiedliche Bands – hier aus dem Kiez und sogar direkt aus der Sonntagstrasse. Wir wollen die Vielfalt und einen Querschnitt repräsentieren, auch mit dem Programm.
Es gibt ausserdem Stände und Vorträge – und zwar an zwei verschiedenen Orten: Einmal in der Sonntagstrasse 26, im Buchladen bzw. Buch-Café InterKontinental - die bis dahin mit dem Umbau fertig sein wollen. Der andere Vortrag findet in den Räumen der Landeszentrale für politische Bildung in der Revaler Straße statt.
Alles steht auch auf der Webseite: www.ostkreuzbleibtbunt.de. Da kann man noch mal nachlesen – unter anderem, dass wir noch Helferinnen und Helfer suchen. Wir sind eine recht kleine Gruppe und es gibt viel zu tun: Stände aufbauen, Schilder aufhängen, Strasse absperren… Wir suchen Leute für die Bühne.
G: Wie ist die Idee zu dem Fest entstanden?
O: Als es am Ostkreuz regelmässig rechte Demos gab, haben wir eine Initiative gegründet und haben geholfen, eine Gegendemo zu organisieren. Und so ist die Idee zu dem Strassenfest entstanden.
G: Es gibt also eine politische Notwendigkeit, das Fest zu organisieren. Kann man die großen Veränderungen auch im Kleinen, in der Sonntagstrasse, sehen?
O: Die Angriffe von Rechten in Friedrichshain haben sich verstärkt. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass Plakate von linken Initiativen systematisch entfernt werden. Und auf die Personen die diese Plakate anbringen, hat es tätliche Angriffe gegeben. Der Kiez gilt als „links-grün-versifft“, und Gewalt sowie politische Anschläge haben insgesamt zugenommen - nicht nur hier in der Gegend. Vermutlich spielen die sozialen Medien eine wichtige Rolle bei dieser negativen Entwicklung – sie polarisieren und vermitteln nicht. Der Mechanismus der sozialen Medien führt dazu, dass sich die Stimmung aufheizt. In der Konsequenz mobilisiert das Gewalt. Zu der Demo der Rechten hier am Ostkreuz kamen – so mein Eindruck – die wenigsten Demonstranten aus dem Kiez. Woanders stört sich also jemand daran, was wir hier machen. Offenbar sieht man uns als etwas Fremdartiges, etwas, das stört. Das hat möglicherweise mit dem Bild zu tun, das manche Social-Media-Feeds von uns zeigt. Wir sind ein komplett gemischter Kiez, und wir sind tolerant. Wenn man hier lebt, muss man tolerant sein – nur so funktioniert es. Und typischerweise sind Rechte nicht tolerant.
Die Entwicklungen haben aber vielleicht auch damit zu tun, dass sich in den letzten zehn Jahren das Modell von Männlichkeit bedenklich verändert hat. Das Männerbild, das z. B. Donald Trump vorlebt, ist voller Gewaltbereitschaft, brutal und unterkomplex. Es ist die Fantasie, die ein Zwölfjähriger hat, wenn er an einen „mächtigen Mann“ denkt. Da waren wir als Gesellschaft eigentlich schon weiter?! Man konnte männlich sein, ohne sich gleich wie ein Idiot zu benehmen.
G: Was wünschst du dir für die Sonntagstrasse?
O: Es ist inzwischen ein stark gentrifizierter Kiez – aber es ist immer noch ein sehr offener Kiez. Es gibt Räume, um etwas auszuprobieren. Ich hoffe das bleibt. Klar, die Strasse wird überrannt, aber die Touris sitzen meist friedlich neben den Alteingesessenen – das ist typisch für den Platz. Diese Bank hier ist ein bisschen berühmt dafür, dass die unterschiedlichsten Leute nebeneinander sitzen. Es ist das laissez-faire – und wir können hier einiges ertragen. Müssen wir auch.
G: Tolerant zu sein bedeutet auch, dass man Toleranz erwarten kann. Man hat hier schon viel mitgemacht. Wenn man also selber mal eine schlechte Frisur hat oder so…
O: Du kannst mehr oder weniger nackig zum Ostkreuz rübergehen – in der Sonntagstrasse wird sich kaum einer was anmerken lassen.
Larry
20. Februar 2025
Gregor: Wie heißt du, wie alt bist du und was machst du in der Sonntagsstraße?
Larry: Ich bin 65 Jahre alt und heiße Larry Jefferson. Die Leute hier im Käpt'n Kiez sind Kumpels von mir. Ich helfe ein bisschen, die Kühlschränke vollmachen oder an der Kasse. Ich bin Nachts hier gewesen, weil die Türe eingebrochen wurde und erst jetzt eine neue Alarmanlage eingebaut wurde. Aufpassen bis der nächste Arbeiter kam um 7 Uhr in der Früh
G: Und hattest du keine Angst?
L: Nein, ich hatte keine Angst. Ich bin Ex-Marine, Ex-Soldat.
G: Du warst damals bei dem La Belle-Anschlag dabei. Wie war das?
L: Das war 1986, die Nacht 4., 5. April. 2 Uhr morgens. Eine Diskothek in Friedenau. Da kamen Terroristen rein, zusammen mit einer deutschen Frau, die hieß Verena Chanaa, mit einer 3-Kilo-Sprengstoffbombe. Zeitzünder, Fernbedienung. Und sie hat das Ding gezündet, und drei Leute sind gestorben. Eine türkische Frau und zwei Soldaten. Viele Verletzte, Verbrennungen, Beine ab, Arm abgelöst, alles. Ich war drin in dieser Disco.
G: Und wie hast du überlebt?
L: Ich hatte Glück. Wo ich gesessen bin, neben der Tür, da waren zwei große Säulen von der Decke bis zum Fußboden. Und ich war dahinter. Die haben viel abgeblockt. Ich hatte richtig Glück, nur das Trommelfell geplatzt. Seitdem bin ich hier. Ich liebe Berlin. Mein großer Bruder war auch hier, beim Militär. Er ist verheiratet mit einem Berliner Mädchen. Aber nach 20 Jahren in der Army ist er zurück nach Amerika und bekommt eine gute Rente. Ich habe nur 6 Jahre gemacht, wegen der Bombe. Ich bin untauglich, kann nicht als Soldat weitermachen, sagt das Pentagon. Man hat mir aber 22 Jahre später eine Entschädigung gegeben.
G: Wie bist du in die Sonntagsstraße gekommen?
L: Ozan ist der Chef hier, ich kenne seinen Bruder. Der hat gesagt: „Larry, mein Bruder kann deine Hilfe brauchen. Nachts. Hilf ihm ein bisschen." So bin ich hierher gekommen. Habe Volkan kennengelernt. Er zeigt mir immer wieder ein paar Karate-Tricks, falls es mal eskaliert.
G: Und ist es immer ruhig geblieben?
L: Ja, alles ruhig.
G: Wie würdest du die Leute hier in der Straße beschreiben?
L: Wallah, schön Multikulti. Ein schöner Kiez, die Leute sind warm, herzlich, immer gut drauf. Und ich habe hier eine sehr nette Frau kennengelernt, die wohnt hinter dem Spätkauf. Es war ein sehr schöner Aufenthalt hier. War gut hier mit den Jungs. Es ist eine Familie, sie sind immer da für mich.
G: Und jetzt ist die Tür und die Alarmanlage wieder repariert und deine Mission hier ist beendet?
L: Ja, ich gehe weiter meinen Weg. Ich habe eine schöne Frau kennengelernt, ich wohne jetzt bei ihr in der Nähe vom Frankfurter Tor. Und ich helfe weiter ein bisschen beim Backshop, in der Eldenaer. Wir sind ein gutes Team.
Franzi
7. September 2024
Gregor: Was verbindet dich mit der Sonntagstrasse?
Franzi: Ich wohne schon mein ganzes Leben lang in Friedrichshain und bin vor 17 Jahren in die Sonntagstraße gezogen, in den Helenenhof. Dort lebe ich mit meiner Familie. Wir bewegen uns viel in der Sonntagstrasse. Auf dem Weg zum Bahnhof oder nach Stralau, man hat hier seine Spätis oder wir gehen mal was essen. Und jetzt, wo die Kinder größer sind, können die sich auch selber mal was holen - also wir nutzen die Strasse eigentlich jeden Tag.
G: Du engagierst dich zusammen mit anderen Anwohnern gegen die Pläne des Senats, die Strassenbahn 21 durch die Sonntagstrasse zu verlegen. Um was geht es?
F: Es geht um Lärmschutz und um Verkehrsberuhigung. Um Denkmalschutz und um viel Geld, das unserer Ansicht nach besser investiert werden könnte. In die KITAs und Schulen zum Beispiel. Es geht um unseren Lebensraum hier. Unser Wunsch ist, dass man die Strassenbahn-Trasse, die es wenige 100 Meter entfernt schon gibt, saniert und erhält. Und dass die Behörden die sinnvollen Alternativen zu der Verlegung endlich berücksichtigen und nicht einfach übergehen. Der Kosten-Nutzen-Faktor muss überprüft werden. Es gibt deswegen auch eine Anfrage an den Bund der Steuerzahler. Denn das Ziel den ÖPNV insgesamt auszubauen kann in diesem Fall, mit viel weniger Ausgaben, erreicht werden. Und es geht um unsere Bedenken bezüglich der Sicherheit. Es passieren viele Unfälle mit Straßenbahnen. Wir haben hier einfach einen super belebten Kiez. Viele Kinder die hier wohnen, die hier ihre Schulwege haben. Ausserdem sollen 34 Bäume gefällt werden. Also das sind die, bei denen es jetzt schon feststeht. Auf der anderen Seite vom Ostkreuz, die alten Pappeln werden alle platt gemacht. Was noch hinzukommt, ist dass Masten in der Strasse gebaut werden müssten. Das heißt, die Wurzeln können nachhaltig beschädigt werden. Man weiss also noch nicht, ob es bei diesen 34 Bäumen bleibt. Dazu kommt das Problem der Bodenversiegelung - denn das Kopfsteinpflaster soll verschwinden. Und ganz grundsätzlich ist es mir wichtig, dass wir als Anwohner mitreden können. Ich habe das Gefühl, ich kann die Prozesse, die meinen Kiez prägen, nicht beeinflussen. Das bringt mich auf die Palme!
G: Das Gefühl kann ich nachvollziehen. Es erinnert mich an die ehemalige Klappe und an die 100-Jahre alten Kastanien, die gefällt wurden und an die Stammgäste, die vertrieben wurden. Der Besitzer von diesem Grundstück, der lebt in Italien, da war vielleicht noch nie hier. Er entscheidet aber mit seiner Unterschrift was passiert und in der Konsequenz müssen sich die Senioren jetzt im Park oder im Späti treffen und wertvolle, alte Bäume sind gefällt.
F: Es ist wichtig, dass wir Anwohner uns organisieren. Wir nutzen einen E-Mail-Verteiler und viele arbeiten zusammen - die meisten neben ihrem normalen Arbeitstag. Es gibt auch Anwohner, die sich auf eigene Kosten juristisch beraten lassen, andere lassen die Flyer drucken oder werfen sie in die Briefkästen.
G: Was ist deine konkrete Aufgabe?
F: Das gelbe Plakat haben meinen Mann und ich zusammen gemacht. Dann helfe ich ein bisschen bei der Koordination. Ausserdem Flyer verteilen, Unterschriften sammeln...
G: Um was geht es in der Unterschriftensammlung?
F: Die Aktion geht über die Unterschriftensammlung hinaus. Denn es gibt für alle Anwohner die Möglichkeit, eigene Einwendungen zu schreiben - das ist dann spezifischer als nur die Unterschrift.
Mit diesen Einwendungen hat jeder die Möglichkeit, ganz persönlich individuelle Nöte, Ansprüche, Ängste, Sorgen darzulegen. Der Schallschutz für die oberen Etagen wurde durch unsere Einwendungen bereits angepasst. Wohin man seine Einwendung schicken muss und auf was man achten sollte, steht zusammengefasst auf unserer Link Seite:
Mit den Unterschriftslisten haben ausserdem alle Anwohner die Möglichkeit, sich gegen das Planfeststellungsverfahren auszusprechen - auch ohne eine eigene Einwendung. An den Türen hängen Zettel, diese einfach unterschreiben - wir sammeln sie dann am 11. September wieder ein. Denn: Unterschrift und/oder Einwendung müssen spätestens am 19. September bei der Senatsverwaltung eingehen.
G: Glaubst du, es gäbe einen Mittelweg? Also Strassenbahn und trotzdem eine Verbesserung? Aktuell stehen sich zwei Forderungen gegenüber und binden so seit über 10 Jahren viel Energie. Meine Befürchtung ist, dass am Ende eine Strassenbahn-Trasse gebaut wird, aber die Chancen die sich dadurch auch ergeben - nämlich weitreichende Ausgleichsmassnahmen - nicht genutzt werden. Vielleicht könnte die Strassenbahn wie am Alexanderplatz in eine "Shared Space" Konzept eingebunden werden und im Schritttempo fahren? Vielleicht gibt es Flüstergleise und teilweise könnte das Kopfsteinpflaster erhalten bleiben. Die Trasse könnte begrünt sein, links und rechts gut ausgebaute Fahrradwege. Kein alter Baum sollte gefällt werden. Anwohner die neu in die Strasse ziehen, können keinen Anwohner-Parkschein mehr beantragen. Die Leute die ein Auto brauchen, werden über die Jahre immer weniger und man muss keinem „seinen“ Parkplatz wegnehmen. Der vordere Teil der Sonntagstrasse könnte eine Fussgängerzone werden. Aktuell ist es für mich, mit Fenstern zur Strasse, sehr laut. Das sind weniger die Menschen als die schnellen Autos. Die LKWs die den Bahnhof beliefern, die Taxis, die Sirenen.
F: Das klingt gut, aber davon ist in den aktuellen Plänen nichts vorgesehen - weder Flüstergleise noch Tempolimits! Ich denke es wird mit der Strassenbahn nicht leiser werden - im Gegenteil, die kommt dann noch dazu.
G: Das Ziel sollte sein, die Situation insgesamt zu verbessern. Umweltfreundlicher, leiser und in die Zukunft gedacht. Möglicherweise geht das auch mit einer Strassenbahn? Wenn beide Seiten keinen Kompromiss suchen, besteht die Gefahr, das sich der Senat früher oder später rechtlich durchzusetzen kann und die Pläne dann rigoros umsetzt. Und dann wäre das tatsächlich eine Verschlechterung der Lebensqualität hier in der Strasse und ein weiteres Beispiel für die Missachtung der Wünsche der Anwohner.
F: Ich finde es gut, für die Strasse neue Visionen zu entwickeln. Aber das Problem an dem aktuellen Stand ist, dass wir mit Visionen nicht arbeiten können. Der aktuelle Stand ist, wir können nur versuchen, es weiter hinauszuzögern. Und hoffen, dass der Senat noch mal überlegt, was es für Alternativen gibt! Darum ist es uns ein großes Anliegen, dass die Alternativen richtig geprüft werden. Es gibt gut ausgearbeitete Varianten zu den Plänen des Senats. Sollte der Senat nicht erklären, warum die bestehenden Pläne besser sind als die Varianten, die von Architekten und Stadtplanern speziell für die Situation entwickelt wurden?
G: Eine Variante sieht vor, dass man vom Ostkreuz zum Viktoria Center läuft und dort eine Haltestelle für die 21er gebaut wird. So wie es jetzt schon gut funktioniert, nur eben noch näher zur Haltestelle.
F: Genau. Die Strassenbahn wird ein bisschen versetzt. Es sind dann ungefähr 150m zur Haltestelle.
G: Also macht es Sinn, sich als Anwohner entweder mit persönlicher Einwendung an den Senat zu wenden oder auf einer der Listen zu unterschreiben. Nur so kann vorerst verhindert werden, dass Fakten geschaffen werden.
F: Wir haben das Gefühl, nicht eingebunden zu werden und nur die fertigen - aber nicht überzeugenden - Pläne des Senats vorgesetzt zu bekommen. Dagegen organisieren wir uns!
Venice
20. Februar 2024
Gregor: Was ist das InterKontinental für eine Buchhandlung?
Venice: Uns gibt es seit Dezember 2018 und wir sind spezialisiert auf afrikanische und afrodiasporische Literatur - haben aber auch andere Literatur dazu: Kinderbücher, Sachbücher, Belletristik. Und vor zwei Jahren haben wir einen Verlag gegründet und verlegen und übersetzen afrikanische und afrodiasporische Romane, Kurzgeschichten und einen Essayband. Dafür wurden wir sogar mit dem Deutschen Buchhandlungspreis als "Hervorragende Buchhandlung" ausgezeichnet. Und der InterKontinental Verlag hat 2023 den Berliner Verlagspreis gewonnen.
G: Wie kamt ihr zu diesem Thema?
V: Angefangen haben wir mit dem "African Book Festival". Wir hatten schon lange die Idee, afrikanischen Autorinnen und Autoren eine Bühne zu bieten, um über ihr Schreiben und über ihre Kunst sprechen zu können. Denn relativ häufig im Kulturbetrieb werden afrikanische Autorinnen und Autoren als Sprachrohr eingeladen für politische Themen. Seltener wird geschaut, was geschrieben wird und wie geschrieben wird. Was bewegt die Autorinnen und Autoren? Was ist der Stil, was sind die Techniken? Dabei wird oft übersehen, dass es in diesem Bereich echte literarische Juwelen zu entdecken gibt! Und genau das war die Idee am Anfang. Und dann hat sich daraus die Buchhandlung entwickelt und dann daraus wieder der Verlag.
G: Der Rapper „Haftbefehl" hat das Wort "Babo" aus dem Zazaischen (sic) in die deutsche Sprache eingebracht - was passiert mit einer Sprache durch Migration?
V: Das lässt sich schwer zusammenfassen. Denn die Autorinnen und Autoren haben sehr unterschiedliche Ursprünge. Die Texte, die wir übersetzen, sind im Original oft auf Englisch oder Französisch - für die Kurzgeschichtensammlung aber auch auf Arabisch, Portugiesisch, Französisch und Italienisch. Wir haben zum Beispiel A. Igoni Barrett bei uns im Programm, der lebt in Nigeria, in Lagos. Wir haben aber auch Jennifer Nansubuga Makumbi, die aus Uganda kommt, aber schon seit längerem in Großbritannien lebt. Trotzdem spielen alle ihre Bücher in Uganda. Ich bin selber Übersetzerin und habe einen unserer Romane und einige der Kurzgeschichten und Essays übersetzt. Ich stelle immer wieder fest, was für große Unterschiede es gibt - selbst wenn auf Englisch geschrieben wird. Zum Beispiel in dem Roman "Blackass" von A. Igoni Barrett, den ich übersetzt habe. Da kommt auch relativ viel Pidgin-Englisch vor - was eine speziell nigerianische Variante des Englischen ist. Es enthält auch Elemente aus anderen Sprachen, die in Nigeria gesprochen werden. Und es sind nicht nur die Wörter, die übernommen werden - auch die Struktur der Sprache ändert sich und das kann die Literatur sehr bereichern.
G: Was würde es für euer Geschäft bedeuten, wenn durch die Sonntagstrasse eine Tram gebaut werden würde?
V: Ich bin nicht sicher, ob die Straße dadurch belebter oder eher leerer werden würde. Aktuell ist nicht so viel Autoverkehr auf der Straße, dafür viele Fussgänger. Inwiefern sich das durch eine Tram ändert, kann ich nicht sagen.
G: Es gibt ja Pläne zur Verkehrsberuhigung hier in der ganzen Gegend. Ein Teil der Holteistrasse soll komplett zur Fußgängerzone werden. Und es gibt die Idee, auch den Teil entlang des großen Parks zur Fussgängerzone zu machen. Mit einer Tram im Schritttempo, so wie z.B. am Alex. Was denkst du darüber?
V: Ich glaube, das wäre schön! Verkehrsberuhigung ist was Gutes, weil es die Menschen zum Verweilen einlädt - das hätte Vorteile für alle Gewerbetreibenden. Und besonders für die Gastronomie wird es netter, weil man draußen sitzen kann, wenn neben einem kein Auto mehr über das Kopfsteinpflaster brettert.
G: Dagegen sind allerdings Anwohner, die sich um wegfallende Parkplätze Sorgen machen. Betrifft dich das auch?
V: Nein, mit dem Auto kommen wir nur her, wenn wir größere Mengen Bücher transportieren wollen, z.B. für eine Veranstaltung mit einem Büchertisch. Aber das würde dann ja trotzdem noch gehen.
G: Wie ist das Verhältnis zu euren Nachbarn? Habt ihr viel Kontakt?
V: Ja, wir haben mit einigen Leuten, gerade hier aus dem Haus, relativ viel zu tun. Die Nachbarn bestellen Bücher bei uns und wir nehmen gegenseitig Post für uns an. Mit Kim, die auch hier im Haus wohnt, organisieren wir gemeinsam den "Sober BookClub". Dort lesen wir zum Thema Alkohol und übers Nüchternsein.
Cristobal
1. Dezember 2023
Gregor: Wer bist du und wo arbeitest du?
Christobal: Ich komme aus Chile, bin 28 Jahre alt und seit zwei Jahren in Berlin. Seit Mai 2022 arbeite ich hier im Bräugier. Bei uns gibt es hauptsächlich Craftbeer. Und wir haben eine Küche. Es gibt Nachos, Burger, Fries, Zwiebelringe, Sandwich und so weiter. Aber das wichtigste ist das Bier. Es gibt ganz unterschiedliche Sorten. Wir haben 19 Sorten Fassbier und das Angebot wechselt ständig. Beispielsweise gibt es Hazy IPAs, die sind sehr hopfig. Jetzt im Winter haben wir Winter Ale oder Bockbier. Und natürlich die Klassiker, also Helles und Pils.
G: Woher kommt das Bier?
C: Von einer kleinen Brauerei im Prenzlauerberg. Ich selber kann leider kein Bier brauen, aber unser Chef, Brian, erklärt uns Mitarbeitern was die Unterschiede sind. Damit wir es den Gästen erklären können. Also was ein West Coast IPA ist oder ein Sauerbier.
G: Merkst du beim Thema Bier einen Unterschied zwischen deutschen und ausländischen Gästen?
C: Deutsche bestellen meistens erst mal nur ein Bier. Dann muss ich fragen: ja welches? Und so werden auch die neugierig und probieren verschiedene Sorten.
G: Welche Gäste kommen zu euch?
C: Alle Möglichen. Vom Alter her kommen zu uns nicht die jungen Leute, vielleicht eher so um die 30 oder 40. Hier am Ostkreuz steigen auch viele Touristen aus, von denen kommen einige zu uns. Wenn die gerade vom Flughafen kommen oder auf dem Weg dahin sind, dann machen die hier einen kurzen Stop. Aber über die Hälfte sind Leute aus dem Kiez, manche wohnen hier in der Strasse oder sogar hier im Haus. Im Sommer sitzen ganz unterschiedliche Leute draussen. Familien mit Kindern trinken was Kühles, Jugendliche auf dem Weg zur Party sitzen bei uns in der Abendsonne.
G: Was denkst du über die Pläne, hier in der Straße eine Straßenbahn zu bauen?
C: Ich arbeite hier und ich glaube für mich wäre es eher gut. Beispielsweise wenn ich abends nach Hause möchte. Ich denke mehr Öffentliche Verkehrsmittel sind insgesamt gut. Und auch für unser Geschäft wäre es wahrscheinlich super. Ich denke aber für die Leute, die direkt hier wohnen, ist es nicht so cool.
G: Kennst du die Pläne des Senats, dass der Kiez insgesamt verkehrsberuhigt werden soll? Hier der Teil der Sonntagstrasse ohne Autos - fändest du das gut?
C: Ich persönlich denke, es ist gut, wenn möglichst wenig Autos durch die Stadt fahren. Also wegen Umweltschutz, wegen Lärm und Dreck und weil sie viel Platz wegnehmen. Was man aber noch lösen muss, ist die Frage mit der Lieferung. Unser Bier wird über die Sonntagstrasse geliefert. Dieses Problem haben wir natürlich auch mit einer Tram. Aber der Lieferverkehr ist in anderen Fußgängerzonen auch irgendwie organisiert. Insofern fände ich es gut. Und für die Gäste, die im Sommer draussen sitzen, wäre es wunderbar.
Sandro
7. November 2023
Gregor: Wie ist es, in der Sonntagstrasse ein Kaffee zu betreiben?
Sandro: Es war von Anfang an nicht einfach. Weil man muss zu den Bewohnern passen die hierher kommen. Also nicht so viele von diesen Leuten, die nur am Wochenende hier am Boxi sind. Zu mir kommen die Anwohner und die sind anspruchsvoll.
G: Seit wann gibt es das Safé?
S: Im März diesen Jahres sind es 16 Jahre. Ne warte, 2024 sind es 16 Jahre! Ich bring ein Stück von meiner Heimat her: Napoli.
G: Was aus Napoli hast du genau mitgebracht?
S: Mein Charakter. Und die Freundschaft. Das man seiner Kundschaft hilft. Wenn jemand reinkommt, kann ich gar nicht unbedingt sagen: das ist ein Kunde. Es ist ein Freund.
G: Kannst du das Leben in der Sonntagstrasse mit dem Leben in Napoli vergleichen?
S: Nein, das kann man nicht vergleichen, zu unterschiedlich. Aber ich versuche ein bisschen davon hierher zu bringen. Ein Teil dieser Seele, die ich hierher bringen will, sagt: man soll nicht immer nur geradeaus schauen. Auch ein bisschen auf die Seiten. Das ist typisch Neapolitanisch. Die Sachen müssen bei uns nicht immer präzise sein. Sondern können auch ein bisschen schief gehen. Es geht um Spontanität und Improvisation und natürlich um gutes Essen. In Napoli lebt man weniger nach den Regeln, dass man jeden Tag früh aufstehen muss und dann immer alles genauso macht - ohne Varianten. Also nicht immer nur Kaffee oder Cappuccino. Du kannst auch mal was anderes probieren.
S: Du machst ja auch manchmal einfach nicht auf, wenn du keine Lust hast, oder?
S: Ja, das passiert manchmal. Es tut mir leid wenn jemand enttäuscht ist. Aber ich glaube, meine Kunden akzeptieren das, hoffentlich. Ich bin ja auch alleine hier und es ist nicht so einfach, jeden Tag von acht bis 17:00 Uhr für die Bewohner und Gäste da zu sein.
G: Hier soll eine Straßenbahn gebaut werden. Was würde das für dein Geschäft bedeuten?
S: Ich befürchte, eine Straßenbahn würde die Sonntagstrasse kaputt machen. Für mein Geschäft könnte es schlecht, aber auch gut sein. Das kann man jetzt noch nicht wissen. Aber es ist für die Straße schade. Beispielsweise für die Kinder, die dann weniger Platz haben… um beispielsweise auf dem Bürgersteig rumzulaufen. Oder alleine mit dem Fahrrad und auch mal auf der Straße… Also eine Straßenbahn ist gefährlich für Kinder!
G: Glaubst du, dass es einen Kompromiss geben könnte, beispielsweise mit einer Fußgängerzone?
S: Erinnere dich doch mal, wie es vor zehn Jahren vorne am Platz war. Die Leute sind gekommen zum Fußball spielen, zum Basketball spielen. Das ist jetzt nicht mehr so. Überall sind Splitter von Gläsern. Man merkt es schon, die Kinder spielen dort nicht mehr. Also meine Kunden und ich auch selbst bring meine Kinder nicht mehr dort hin. Zu viel Party und so weiter! Diese Probleme haben nichts mit der Strassenbahn zu tun - aber bevor man große Pläne mit der Straßenbahn macht, könnte man sich darum kümmern!
Tony
1. Oktober 2023
Gregor: Was machst du in der Sonntagstrasse?
Tony: Ich habe Obdachlosenzeitungen, Kulturmagazine für die Leute hier. Diese hier sind von Karuna Kompass, die haben am Boxhagener Platz einen Pavillon und unterstützen sozial schwache Menschen. Von denen beziehe ich die Zeitungen - kostenlos - und kann sie dann hier verkaufen. Ich kenne die Gegend sehr gut, bin jetzt fünf Jahre hier auf der Strasse. Jeden Sonntag bin ich am Ausgang S-Bahn Ostkreuz.
G: Wer sind die Käufer der Zeitungen?
T: Es gibt Stammkunden, die lesen die alle 4 Wochen, immer wenn sie rauskommt. An so einem Tag verkaufe drei Zeitungen und verschenke acht Stück. Aber ich bekomme dafür Spenden, Kleidung oder Essen.
G: Was ist dein Eindruck von den Menschen hier in der Strasse?
T: Es ist familiär. Die Leute unterstützen mich ganz gut hier. Typisch ist das Abhängen. Man sieht, die Leute fühlen sich wohl hier.
G: Genau hier soll bald eine Strassenbahn durchfahren. Wie würde sich die Strasse durch eine Strassenbahn ändern?
T: Mehr Chaos. Das wäre negativ!
G: Und wenn man die Strasse dafür für Autos sperren würde?
T: Autofreie Zone? Sehr gut! Eine Spielstrasse wäre perfekt. Dann könnte man das mit der Strassenbahn schon zulassen.
Jiři
5. August 2023
Gregor: Wer bist du und welches Geschäft betreibst du in der Sonntagstrasse?
Jiři: Das ist das Bettenhaus, ich bin der Jiři. Das ist ein Tschechischer Name, kennst du den Schauspieler Jiří Vršťala?
G: Was ist die Geschichte deiner Kneipe?
J: Die Geschichte? Zwei meiner damaligen Kumpels haben den Laden 2001 aufgemacht. Die Idee war, schnell an Bier zu kommen. Gegenüber im damaligen Zebrano hat es ihnen einfach zu lange gedauert. Da ist jetzt übrigens das Umami drin. Dieser Laden hier wurde frei, weil die damalige Inhaberin ihren Wäscheladen abgegeben hat. Da kamen die beiden auf die Blitzidee, den Laden aufzumachen. Und haben das Ding hier in vier Wochen umgebaut. Aber seit 2004 sind die beiden weg und ich betreibe das Bettenhaus alleine.
Der Name und die Ausstattung beziehen sich noch auf das Geschäft, den Bettwarenladen, von Frau Marschner. Beispielsweise diese Fuss- und Kopfteile von Betten, wie sie hier hängen. Und alles seit 19 Jahren unverändert.
Ich kenne die Gegend aber schon lange. Zu DDR Zeiten war ich öfters drüben in der Gryphiusstrasse. Da war ein Jugendclub. Und manchmal waren wir auch in den Kneipen hier in der Ecke. Wo jetzt die Apotheke drin ist, war das Aquarium. Da wo früher die Videothek drin war, da war früher ne Konsum-Gaststätte drin. Bevor wir in die Diskothek gegangen sind, haben wir uns da Mut angetrunken oder haben vorgeglüht.
G: Was ist gut und was ist schlecht - aus der Perspektive des Unternehmers hier in der Strasse?
J: Schlecht ist das Benehmen der Leute. Aber das ist nicht nur für das Geschäft nervig, sondern rundum. Wenn ich sehe, wie die Leute miteinander kommunizieren. Und kein Radfahrer hält sich an die Regeln. Das geht mir auf den Sender. Und das Ordnungsamt interessiert das überhaupt nicht. Das ist hier rechtsfreier Raum, manchmal. Und das mit den Drogen… ich kann es nicht kontrollieren, aber jeden Tag auf dem Klo sind da irgendwelche Koksröhrchen… Das ist schlecht. Und das Thema mit den Obdachlosen. Ich mache da keinen persönlich für verantwortlich. Das sind Leute die können einem Leid tun. Aber die Wohnungspolitik der Stadt ist einfach nur gaga. Positiv ist, dass es hier noch nicht zu ernsthafteren Konflikten gekommen ist.
G: Was wünschst du dir für die Strasse?
J: Keine Strassenbahn! Würde ein letztes Stück Kiez kaputt machen.
G: Wäre ein Bus vielleicht ein Kompromiss?
J: Ja, ich habe nichts gegen Obusse.
G: Und die wegfallenden Parkplätze?
J: Ich habe ein Auto, mit dem ich meinen Laden versorge. Nennt mir die Alternative. Ich kann nicht alles bestellen. Die Lieferkosten wollt ihr nicht bezahlen, hier mit dem Bier. Man könnte aber mit den Zulassungen der Parkscheine steuern, wie viele Autos es hier gibt. Leute die neu herziehen, müssten nicht unbedingt einen Parkschein bekommen. Oder wenigstens nicht gleich mehrere. Da hat die Stadtordnung aber keine Vorschläge und so gibts jetzt schon zu wenig Parkplätze. Und die bisherigen Anwohner gehen auf die Barrikaden, wenn sie Strassenbahn hören.
Gregor: Was sind deine ersten Erinnerungen an die Sonntagstrasse?
Jörg: Meine Eltern und ich, wir haben in Treptow gewohnt, dort bin ich geboren, 1941, in der Köpenicker Landstraße. Ich kann mich erinnern, es muss 44 gewesen sein, als hier schon alles in Schutt und Asche lag. Meine Mutter brachte mich schnell in den Keller der Sonntagstrasse 26. Dort haben wir einen Bombenalarm abgewartet und konnten dann wieder zurück, in die Wohnung meiner Großeltern, Sonntagstrasse 26. Es sind immer wieder Bomben gefallen, hier ein paar Häuser weiter war ein Trümmerfeld. Wenn ich mich recht erinnere, war auf der rechten Seite Richtung Bahnhof kein Haus zerstört, aber auf der gegenüberliegenden Seite waren die Häuser stark betroffen.
Hier weiter vorne, im zweiten Stock, hatte eine Frau eine Badewanne und die hat sie vermietet. Man konnte sich dort waschen in ihrer Wohnung. Für mich war das eine kleine Sensation. Das man in einer Badewanne liegen konnte, mit warmen Wasser.
Gleich neben an, also der Laden links neben dem Eingang 26, da gab es einen Laden, der hiess Mischke. Mein Großvater ist da oft zum Kegeln hingegangen und er war ganz gut und hat etliche Preise gewonnen. Noch heute hebe ich einige seiner Pokale auf.
G: Deine Großeltern haben schon länger hier gewohnt?
J: Die beiden sind aus dem damaligen Pommern nach Berlin gekommen, so um die Jahrhundertwende. Sie haben Laden und Wohnung hier gemietet und einen Zigarren- und Zigarettenladen etabliert. Das Geschäft lief gut, auch weil Zigaretten damals eine Art Währung waren.
Aber das waren teilweise schlimme Zeiten, mit vielen Kämpfen. Als meine Mutter ein Kind war, zum Ende der Weimarer Republik, haben hier Straßenkämpfe stattgefunden. Auch hier in der Strasse gab es Schiessereien. Meine Mutter erzählte einmal, das drüben, wo heute der Biergarten ist, eine Mauer stand, an der zig Leute erschossen wurden.
Kurz vor dem Ende des Krieges konnten meine Mutter und ich, Gott sei Dank, mit den letzen Zügen Berlin verlassen. Meine Großeltern sind hier geblieben und mussten das ganze Chaos miterleben. Denn der Krieg war mit der Unterzeichnung der Kapitulation noch nicht beendet.
Wir lebten dann in Bad Salzschlirf, einer sogenannten Lazarett-Stadt, wo mein Vater lag, schwer verwundet von der Ostfront. Dort bin ich dann auch in die Schule gegangen. 1950 sind wir nach Frankfurt gezogen und später nach Hannover, wo ich bis heute wohne.
In den fünfziger Jahren habe ich die Sommerferien dann meistens bei meinen Großeltern in der Sonntagstrasse verbracht - da gab es den Laden noch und die angeschlossene Wohnung. Ich kannte hier ja auch etliche Leute. Meine Mutter war hier aufgewachsen, und beispielsweise die beste Freundin meiner Mutter, Lotti, wohnte in der Lehnbachstraße. Und ich hatte zwei Cousinen, die haben nur zwei Strassen weiter gewohnt. Wir haben hier auf die Platten, die es immer noch gibt, unverändert, mit Kreide Sachen aufgemalt und Hopse gespielt.
G: Welche Konsequenzen hatte der Mauerbau?
J: Erst mal nicht so viele. Ich kam weiterhin regelmässig in die Sonntagstrasse. Ich musste nur eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, wenn ich meine Großeltern besuchen wollte. Aber das ging.
Bis 1963 - da gab es einen Vorfall, wegen dem ich dann erst mal eine ganze Zeit lang keinen Fuss mehr in die Strasse setzen wollte.
Als ich mal wieder hier war, erwarteten mich zwei Männer in Zivil und wollten mich sprechen, erst noch ganz freundlich. Aber es wurde dann richtig ungemütlich, als die beiden auf politische Themen zu sprechen kamen. Da dachte ich, oh Donnerwetter. Es ging um den Friedensstaat DDR und die Revangisten drüben im Westen. Ich wurde regelrecht in die Zange genommen. Und das endete damit, dass sie mir den Pass abgenommen haben. Damit war ich praktisch gefangen. Und sie kamen nach und nach mit ihrer Forderung durch: Ich sollte Spion werden, für die DDR.
Es war erstaunlich. Sie wussten besser darüber Bescheid als ich, was mich bei der Bundeswehr erwarten würde. Wann ich eingezogen werden sollte, in welche Kompanie ich kommen sollte, in welchen Zug - das war Ihnen alles schon bekannt. Aber ich hab mir gesagt, da darfst du dich nicht drauf einlassen. Wer weiß, wo das endet?!
Man hatte mich am nächsten Tag zur Polizei bestellt, zu einer Wache, irgendwo in einem anderen Kiez. Ich bin dann mit meiner Oma dahin und die haben mich in einem Nebenraum erneut befragt. Sie haben Druck ausgeübt, aber ich bin bei meiner Meinung geblieben. Kurzum, sie haben mir den Pass wiedergegeben und ich sollte etwas unterschreiben. Auf einem vorgefertigten Zettel eine Unterschrift leisten, dass ich Stillschweigen über dieses Vorkommnis bewahren würde. Da hab ich gesagt: nein, das unterschreibe ich nicht. Warum? Weil ich dachte, die würden vielleicht etwas retuschieren oder so. Also ich hab nein gesagt - aber ich schwöre Ihnen, und ich schreibe mit meinen eigenen Worten jetzt auf, dass ich Stillschweigen über dieses Vorkommnis bewahren werde. Und da haben sie sich glücklicherweise darauf eingelassen! Und ich bin fluchtartig abgehauen.
G: Hätte die Sache auch Schwierigkeiten für deine Großeltern bedeuten können?
J: Wir waren damals alle etwas naiv. Meine Großeltern hatten eigentlich überhaupt keine Ahnung, worum es bei dieser Sache ging. Und ich selbst war am Anfang ja auch so blöde und habe erst nach und nach verstanden, dass es sich um die Stasi handelt. Meine Großmutter war dann nur traurig, dass ich schon ein paar Tage eher fahren wollte. Sobald ich den Pass wieder hatte, sage ich: Oma wo ist hier die nächste U-Bahn Haltestelle richtung Friedrichstraße? Ich bin über die Friedrichstraße zurück in den Westen und habe aufgeatmet. Weil mir immer klarer wurde, in welcher Gefahr ich mich befunden hatte. Ich hatte dann so große Angst noch mal durch die Zone zu fahren, dass ich zu meiner Cousine gegangen bin und mir 60 DM für ein Flug geliehen habe. Von Tempelhof nach Hannover mit British Airways.
Meiner Cousine hab ich nur ansatzweise was verraten, ich hab mich an das Papier gehalten und hab keine Einzelheiten erzählt. Später habe ich es nur meinen Eltern erzählt, aber die hat es nicht so beunruhigt. Man hatte eben andere Sorgen und es war ja alles gut gegangen.
Wenig später kam ich zur Marine und wir hatten Aufklärungsgespräche mit der Bundeswehr-Polizei. Man hat damals gewusst, dass pro Kompanie ein voll ausgebildeter DDR Spion sitzt. Das haben die uns erzählt und da dachte ich mit Schrecken daran, dass ich das hätte sein können.
Aber ich habe nichts erzählt. Ich hab mich streng daran gehalten. Ich wusste ja auch nicht, wenn ich mich jemand gegenüber offenbare, ob das dann als Information in der DDR landet.
Ich war dann länger nicht mehr in der Sonntagstrasse. Ich war eineinhalb Jahre bei der Marine, auf See. Anschließend bin ich ins Berufsleben eingestiegen und bin nur noch ganz selten hergekommen. Erst in den letzten 10, 15 Jahren komme ich wieder regelmässig vorbei.
In meinem Alter setzt manchmal eine Wehmut ein, wenn ich hier so durch die Straße gehe und mir das alles so einfällt… Es liegen 80 Jahre dazwischen, seid ich hier als Kind gespielt habe. Darum komme ich auch immer wieder sehr gerne hier her.
G: Wie hat sich die Sonntagstrasse aus deiner Perspektive entwickelt?
J: Das einzig wirklich beständige im Leben, ist der Wechsel. Und der ältere Mensch tendiert dazu zu sagen: Früher war alles besser. Aber es kommt darauf an, aus welchem Blickwinkel man etwas betrachtet. Es gibt den Spruch von Heinz Erhardt: Früher war alles gut, heute ist alles besser. Es wäre besser, wenn wieder alles gut wär.
Was gut ist, ist die Lebendigkeit dieser Strasse heute. Es hat sich enorm viel etabliert, mit vielen jungen Leuten. Mit den ganzen Kneipen und Geschäften. Das hätte meinen Großeltern gefallen, denke ich. Das überall die Wände beschmiert sind, stört natürlich manche Leute - so wie mich.
Und manchmal kommen mir Leute entgegen… da gehe ich lieber auf die andere Seite. Ich weiß eigentlich, dass sind oftmals liebenswürdige Leute, aber in meinem Alter kann ich das nicht so gut erkennen. Zum Beispiel in der S-Bahn, da dachte ich mal: Oh, dem möchte man Nachts nicht alleine begegnen. Und dann steht er auf und bietet mir den Platz an. Die alten Leute kommen eben manchmal nicht so gut damit zurecht, wie sich die Welt verändert hat.
Jörg und ich haben uns vor der Haustüre der Sonntagstrasse 26 kennengelernt. Wir haben gemeinsam die ehemalige Kegelbahn besucht und nach der Wohnung der Großeltern geschaut, in der sich heute der Buchladen InterKontinental befindet. Vielen Dank an InterKontinental und Sora, dass ihr uns in eure Räume gelassen habt. Und vielen Dank Jörg, unsere Begegnung hat den Anstoß dazu gegeben, eine neue Portrait-Serie zu beginnen. Gregor, Juni 2023