Peter Zimmerling
Im Bekennen von Schuld und Versagen vor Gott liegt eine Lebenskraft verborgen, die heute weithin unbekannt ist und deshalb ungenutzt bleibt. Ich bin überzeugt, dass Schuldbekenntnis und Vergebungszusage Zeichen menschlicher Würde darstellen. Schuldig zu werden gehört zum Menschsein. Ich nehme mein Leben ernst, indem ich meine Schuld eingestehe. Das Sündersein darf daher – anders als eine jahrhundertelange Tradition der Beichte es suggerierte – nicht länger als Ausdruck einer kleinmachenden und entmündigenden Erfahrung missverstanden werden. Vielmehr muss es als heilsam rettende Erfahrung begriffen werden.
Schuldbekenntnis und Vergebungszusage stellen Zeichen menschlicher Würde dar.
Zur Situation
Die Einzelbeichte wird im evangelischen Raum gegenwärtig kaum wahrgenommen. Es war deshalb ungewöhnlich, dass ich am Anfang meines Theologiestudiums die Beichte kennenlernte. Ein älterer lutherischer Pfarrer weckte in mir den Wunsch nach Seelsorge und Beichte. Ich hatte beobachtet, dass die unterschiedlichsten Menschen ihn zum Gespräch aufsuchten. Mit einer liturgisch geprägten Beichte, zu der der Zuspruch der Vergebung unter Handauflegung gehörte, begann meine persönliche Geschichte mit der Beichte. Später konnte ich während meiner Tätigkeit als Pfarrer einer evangelischen Kommunität vielfältige Praxiserfahrungen sowohl als Beichtender als auch als Beichthörer machen.
Beichte – ein vergessenes Mittel zu Entlastung und Lebensfreude
Offensichtlich kann kein Mensch leben, ohne von Zeit zu Zeit Entlastung von Schuld und Versagen zu erfahren: Ohne Aussprache, Annahme und Entlastung keine seelische Gesundheit! Das belegen die überfüllten Praxen von Therapeuten der unterschiedlichsten Schulen. «Ein Katholik hat die Beichte… Ich habe bloss meinen Hund», schrieb der aus der reformierten Kirche stammende Max Frisch in seinem Roman «Mein Name sei Gantenbein». An die Stelle der Beichte ist heute der Besuch des Therapeuten bzw. der psychologischen Beraterin getreten. Diese gelten als die kompetenteren Gesprächspartner als Pastoren.
Ohne Aussprache, Annahme und Entlastung keine seelische Gesundheit!
Dennoch scheint Psychotherapie den Menschen nicht zu genügen. Während Therapien die Hintergründe von Schuld und Schuldgefühlen analysieren und so verstehen helfen, geht es in der Beichte darum, dass Menschen Vergebung ihrer Schuld erfahren. Sie eröffnet einen Weg, auch dann mit Schuld und Versagen fertig zu werden, wenn sie nicht wieder gutgemacht werden können. Dabei wirkt sich die Beichte positiv auf die seelische Gesundheit aus. Untersuchungen über die Häufigkeit psychosomatischer Erkrankungen legen nahe, dass Christen, die regelmässig die persönliche Beichte in Anspruch nehmen und sich aktiv am Gemeindeleben beteiligen, weniger seelisch erkranken als andere. Der Schweizer Arzt und Psychotherapeut Paul Tournier meinte schon vor vielen Jahren, dass Beichte und Umkehr auf dem Weg zu seelischer Gesundheit die wichtigsten Schritte seien.
Durch die Möglichkeit, Schuld einzugestehen, gibt die Beichte anders als manche Therapien, die bei der Erklärung der Ursachen des Schuldigwerdens stehenbleiben, dem Menschen seine Verantwortlichkeit zurück. Das führt zur Stärkung des Selbstwertgefühls. Der Zuspruch der Vergebung in der Beichte besitzt ausserdem einen kathartischen (reinigenden) Effekt – auch das eine wichtige Hilfe auf dem Weg zu seelischer Gesundheit.
Viele Menschen leiden darunter, dass sie selbst und die Welt um sie herum nicht so sind, wie sie sein sollten. Sie erkennen, dass sie hinter den Ansprüchen an sich selbst zurückbleiben und ein unheilvoller Riss durch die gesellschaftlichen Verhältnisse geht! Gleichzeitig ist das Angebot des Evangeliums, dass Gott bereit ist, um Jesu Christi willen Menschen die Sünden zu vergeben, in der Vergangenheit mehr und mehr in Vergessenheit geraten oder für unzeitgemäss erklärt worden. Beides hat nach Überzeugung des Philosophen Odo Marquard den neuzeitlichen Menschen in eine prekäre Lage gebracht. Er muss mit seiner Schuld und Schuldverflochtenheit selber fertig werden und findet sich als Konsequenz in einer «Übertribunalisierung» seiner Lebenswirklichkeit vor (Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, 49). Der Mensch gerät «als wegen der Übel der Welt absolut Angeklagter – vor einem Dauertribunal, dessen Ankläger und Richter der Mensch selber ist – unter absoluten Rechtfertigungsdruck, unter absoluten Legitimationsdruck, unter absoluten Legitimationszwang.» Die Beichte stellt angesichts dieser Situation einen Weg zu innerer Entlastung dar.
Die Bedeutung des Beichtgeheimnisses
Für den Stellenwert der Einzelbeichte in der öffentlichen Wahrnehmung spielt das mit ihr verbundene Beichtgeheimnis eine wichtige Rolle. Jede Beichte, die vor einem ordinierten bzw. geweihten Geistlichen abgelegt wird, steht unter dem Beichtgeheimnis, das auch der Staat ohne jede Bedingung anerkennt (Artikel 321 des Schweizerischen Strafgesetzbuches: «Eine Verletzung des Berufsgeheimnisses ist strafbar»). In römisch-katholisch geprägten Regionen tragen Statuen des Heiligen Nepomuk von Prag auf bzw. an Brücken bis heute dazu bei, dass das öffentliche Gedächtnis von der Unverbrüchlichkeit des Beichtgeheimnisses geprägt wird. Die damalige Königin hatte in Prag dem Heiligen Nepomuk ihren Ehebruch gebeichtet. Der König wollte unbedingt erfahren, wer der Mann war, der mit ihr die Ehe gebrochen hatte. Doch Nepomuk weigerte sich standhaft, gebunden an das Beichtgeheimnis, ihm den Namen des Mannes zu nennen. Die Folge war, dass der verlässliche Beichthörer an einem Brückenpfeiler in der Moldau ertränkt wurde.
Es ist nicht zuletzt das staatlich geschützte Beichtgeheimnis, das ordinierten Geistlichen auch in der Sicht säkularer Menschen eine Vertrauensstellung garantiert. Von hier aus wird die besondere Schwere des Schadens verständlich, der durch den Missbrauchsskandal angerichtet wurde.
Dass die christliche Rede von Sünde, Schuld und Vergebung zu entlasten vermag und dem Menschen gleichzeitig seine Verantwortlichkeit zurückgibt und so zur Stärkung seines Selbstwertgefühls beiträgt, wird nicht von heute auf morgen im öffentlichen Bewusstsein Eingang finden. Um hier ein neues Bewusstsein zu fördern, sind aufseiten von Theologie und Gemeinde Fantasie und Beharrlichkeit gefragt.