Nobodaddy's Land
(An Stelle einer Eröffnungsansprache)
Von Andreas Neufert
Verehrte Damen und Herren, liebe Besucher*innen der Ausstellung Nobodaddy´s Land von Bodo Rott. Ich gebe zu, der Titel dieser Ausstellung verführt mich dazu anzunehmen, Bodo Rott sähe die Welt mit den Augen, dem besonderen Blick eines Künstlers, der zu seiner kindhaften Lebensphase nicht unbedingt eine Differenz sondern in vieler Hinsicht eine Kontinuität aufbauen will. Das würde umgekehrt voraussetzen, das kindhafte Sehen, das sich in manchem seines besonderen Potentials über die frühen Erwachsenenjahre durch die künstlerische Aktivität hinwegretten lässt, ginge für die meisten anderen Menschen durch zivilisatorisch auferlegte Zwänge und Ordnungen früher oder später unwiederbringlich verloren.
Nobodaddy ́s Land. Man kann den Titel dieser Ausstellung, der auf einen frühen Romantitel Arno Schmidts und gleichsam über diesen Umweg auf ein Gedicht William Blakes zurückgeht, durchaus im größeren Rahmen des Oberbegriffs Nichtkinderkinder, den Bodo Rott an anderer Stelle für eine Bilderserie gewählt hat, in diesen Ansatz einer Betrachtungsweise miteinbeziehen. Obwohl zeitweise von der Bildbühne verschwunden, wie Rott im Interview sagt, feiern die Nichtkinderkinder in den hier gezeigten Bildern wieder fröhliche Urstände als „Grundlage meiner Bilder“. Das verführt mich dazu anzunehmen, die Nichtkinderkinder („Ich nenne sie nicht Kinderkinder“, oder: „Ich nenne sie Nichtkinderkinder“) ließen sich als Allegorien für das besondere Sehen deuten, durch die der Impuls des Kindhaften oder eben nicht mehr kindhaften Kindseins in und durch die Malerei momenthaft auf uns (erwachsene Kinder) überspringen soll.
Verfolgen wir diese Idee etwas eingehender, müssen wir gewagt und beherzt weiter ausholen. Für die Modernisten unter den Malern war der tiefe Wunsch, zu einem kindhaften Sehen zurückzukehren, immer mit der Frage verbunden, was dies ganz konkret für die erwachsene Ordnung des Sehens und damit der Bildmittel bedeuten könnte. Wenn wir hier von einer Neuordnung des Sehens durch die moderne Malerei sprechen wollen, und das ist sie ganz elementar mindestens seit den grenzerweiternden Kunstbewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, dann weil uns Bodo Rotts Bilder wieder mitten in die unvollendeten Diskurse um das ursprüngliche Sehen hineinführen, sei damit die als kindlich aufgefasste Neigung zum „archaischen“ Ineinssehen innerer und äußerer Bildimpulse in ihrer ganzen Bandbreite gemeint, oder auch der reife Relativismus (äußeren) Sehens im Analytischen Kubismus: Betrachtende sollen hier über verschiedene Strategien der Zurücknahme des Wiedererkennbaren und den dadurch aufs höchste erregten Wahrnehmungsreiz mit dem Geheimnis des Bildangebots verwoben werden. Diesem „Verstricktsein“ durch teils schwebende, unscharfe Bedeutungsebenen, wie sie die gegen-realistische Bildkunst der Moderne ganz bewusst als Grenze der Wahrnehmung in die Sprache integriert hat, will Bodo Rott, wie er sagt, erneut „Ausdruck verleihen“.
Ein zugegebenermaßen etwas gewagter aber doch zündender Gedanke, der mir beim ersten Begegnen mit Rotts Bildern in dessen Neukölln Studio mit seiner speziellen Lower- Eastside-Athmosphäre einfiel, ist: ordentliche Bilder übertragen keine Wärme, kein Leben; eine Schwachstelle in der Malerei der de Stijl Puristen war mit Sicherheit, dass hier die Rechnung weitgehend ohne den Wirt gemacht wurde. Der Betrachtende wurde vor dem Gebäude der harten Ecken und Kanten stehengelassen, sozusagen thermodynamisch nicht abgeholt, und daran arbeitet sich Rott noch einmal ab, und zwar mit all den Registern der Malerei, über die er fast traumwandlerisch verfügt, und das auf durchaus brillante Weise (so dachte ich also in prima vista).
Eine kurze Schleife zur Erinnerung sei hier eingefügt: Piet Mondrian traf 1940 in New York auf die jungen amerikanischen Maler*innen, die ihn neugierig umschwärmten und den nüchternen Puristen in die Nächte des Boogie Woogie entführten. Ihm wurde schlagartig klar, dass er malerisch an einem Endpunkt angekommen war (abzulesen vielleicht am besten an seiner spontanen Begeisterung für Jackson Pollock). Für ein paar Jahre flackerte Leben auf, das seine Wärme mikrophysisch immer vom Durcheinanderwirbeln der Atome erhält. Jeder spürt das thermodynamische Geschehen New Yorks sofort auf der eigenen Haut. Die Wärme überträgt sich, während die Kälte bei sich bleibt. Diese Gleichung funktioniert für mich eigentlich immer: Wärme ist nichts anderes als ein In-Bewegung-Geraten der Partikel, und darum versteht sich fast von selbst, warum Bilder, deren besondere Sehfeldstellen, die das Erwachen unseres Interesses steuern, aus dem gewohnten Lot geraten sind, sprich: mit unserem Auge einen Wirbel, eine Bewegung, also einen Raum zwischen uns und der Leinwand aufbauen, einnehmender und wärmer wirken, als Bilder, deren Geraden und Flächen starr in der künstlichen Ruhe rektangulärer Ordnung verharren. Natürlich fehlt in dieser Gleichung ein wichtiger Faktor: die Farbe. Ihre Kälte und Wärme wirkt über das generische, emotive Gedächtnis direkt auf die Wahrnehmung. Und doch: um den Nähe-Raum, von dem hier die Rede ist, regelrecht anzufeuern, bewegen einige der Farbfeldmaler (etwa Mark Rothko oder Jean Scully) den Betrachter nicht nur durch die Farbe, sondern auch über die chaotische Auflösung der einst starren Schnittlinien der Felder, deren Reibungsenergie dadurch geradezu entfesselt wird. Das Verrückte ist, dass Maler*innen mit ihrer mühseligen Arbeit an Raum und Zeit ihres, in Form einer Leinwand still vor ihnen stehenden Sehfeldes nicht nur die Scheinordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchdringen und neu arrangieren können. Sie können auch die Grammatik natürlicher Bewegung eigenwillig entordnen und uns schrittweise in immer wärmere, ja heiße Situationen entführen, indem sie die Welt in jeder Hinsicht außer Fokus geraten lassen.
Und hier sind wir bereits inmitten Bodo Rotts entfokussierter Bildwelt, die er für sich und seine Betrachter*innen eingerichtet hat: segmenthafte Sehfeldstellen, „Kacheln mit holzschnitthafter Binnenzeichnung“, wie er selbst sagt, die an ihren Rändern durch einen geschickt geführten Licht- und Schattenillusionismus ins Vibrieren geraten, entwickeln sich in ihr wie ein Kartenspiel, das in den Raum geworfen wurde, auf uns zufliegt und plötzlich zitternd in der Luft vor uns hängen bleibt. Das meint der Künstler vielleicht, wenn er von „plastischer Tapete“ oder wucherndem „Linien-Netzwerk“ spricht, das sich aus dem bühnenhaften Landschaftsgrund grafisch nach vorne entfaltet hat, um fast bedrohlich aus dem Bild zu drängen. Die Bilder produzieren so einen eigenen heißen Raum, in dem durch die einzelnen Segmente und ihre Stellung im Spiel von Licht und Schatten eine in sich eigene Dynamik von Vorder- und Hintergründen entsteht, als würde der durch eine Welt aus aneinander stoßenden Objekten wandernde Kinderblick selbst objektiviert, d.h. in seiner schnell wechselnden Beweglichkeit von Persönlichkeit zu Persönlichkeit (und nichts anderes sind alle Objekte für Kinder) zum zeitlich erlebbaren Bild.
Das Spannende an der Auseinandersetzung mit Bildern ist ja, dass sie uns nahe sind oder nahe kommen können, d.h. die zeitliche Empfindung des „Jetzt“ der Präsenz, der nur für Nähe und in der Nähe Geltung hat, ist dort ausgedehnter möglich, als selbst mit Menschen, denen wir uns nahe fühlen. Bilder zwingen uns zur Einhalt, sie sind still, sie frieren den Moment ein, weil sie selbst einen eingefrorenen Moment vermitteln. Das liegt in der Natur des Bildes und ist eine enorme Chance, eine Möglichkeit, die sonst keine Kunstgattung in sich trägt: dass ein besonderer Moment im Bild mit einem besonderen Moment in uns, den Betrachtenden, korrespondiert, was tatsächlich auch die Voraussetzung für die Empfindung des „Jetzt“, mithin also der verfließenden Zeit ist (seit Einstein und Boltzmann wissen wir, dass es, je größer die Entfernung, desto weniger möglich ist, von einem gleichen Jetzt an unterschiedlichen Orten zu sprechen). „Unser Jetzt reicht nicht über das ganze Universum“, sagt der Quantenphysiker Carlo Rovelli, „es ist wie eine Blase in unserer Nähe.“ Und das moderne Bild ist spätestens seit dem Kubismus eine Zusammenstellung oder ein Wirken von Ereignissen, die weder vergangen noch zukünftig sind, aber doch das Zeug dazu haben, mittels ihrer Unschärfe und Fremdheit den Archivkasten unserer noch nicht realisierten Welterfahrung aufzuschließen. Alle modernen Bildsprachen, die (wie z.B. der Suprematismus) auf ein universelles „Jetzt“ des Universums zielten (oder eine zeitlose Vierte Dimension), haben zwar die sprachlichen Möglichkeiten der Malerei erweitert, inhaltlich gingen sie aber sprichwörtlich ins Leere, da es so etwas wie ein universelles „Jetzt“ ebensowenig geben kann, wie eine Vierte Dimension, die mittels eines Bildes erlebbar wäre.
Vielleicht noch eines: Bodo Rotts Rankgitter, die er irgendwann einmal im Hortus Convulsus des Eichstätter Klostergartens als Feier des Wuchernden und miteinander verschränkten in einer Zeitgleiche aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlebt hat, und nun immer wieder aufs neue in immer neue Bilder überträgt und weiterentwickelt, lassen den Begriff von Landschaft, den jeder von uns mitbringt, zu dem werden, was Landschaft in Wirklichkeit ist: eine vielgesichtige Räumlichkeit, die sich als Gegenüber entzieht und sich nur in der Teilnahme erschließen lässt. Ich wünsche Ihnen viel Freude und Inspiration bei der Betrachtung, und vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Danken
Wir danken Andreas Neufert für die gute Zusammenarbeit, Augustin Breu für seine helfende Hand und Paulo Mulatinho für seine Unterstützung.
Die Ausstellung ist vom 24. April bis 12. Juni zu den Öffnungszeiten der Galerie zu besuchen. Selbstverständlich unter Berücksichtigung der Hygienevorschriften aus Anlass der COVID-19 Pandemie.
Sollten Sie den Wunsch haben, einen Einzeltermin außerhalb der Öffnungszeiten zu erhalten, bitten wir um telefonische Anmeldung.
galerie 13 - fritz dettenhofer