Sehnsucht nach Verbundenheit

Dieter Bösser

Manuela K. lebt eigentlich in einem normalen Beziehungsumfeld und trotzdem fehlt ihr etwas. Ihre Teenager haben die Pubertät überstanden und brauchen sie jetzt vor allem als Dienstleisterin für Essen und Hygiene. Ihr Ehemann ist im Beruf stark gefordert und zuhause eher der Bedürftige. Die Gespräche mit Nachbarn gehen kaum über Small Talk hinaus. Und in der Gemeinde ist es irgendwie ähnlich – leider. Immer wieder mal steht sie nach dem Gottesdienst alleine im Foyer und beobachtet die angeregten Gespräche um sie herum. Mit Mühe kann sie die Tränen zurückhalten. Ihr fehlen tiefergehende Beziehungen und Verbundenheit!

«Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei»

Dieser Satz aus 1. Mose 2,18 wird häufig auf eheliche Beziehungen bezogen. Seine Bedeutung geht aber weit dar­über hinaus. Gott hat dich und mich als Beziehungswesen gewollt und nicht als Einsiedler, auch wenn das Bedürfnis nach Beziehungen nicht bei allen Menschen gleich gross ist. Die Einbindung in ein Netz guter Beziehungen wirkt sich in mehrfacher Hinsicht positiv aus.

Die Einbindung in ein Netz guter Beziehungen wirkt sich in mehrfacher Hinsicht positiv aus.

Mit anderen Menschen verbunden zu sein wird gegenwärtig bedroht durch den hohen Stellenwert, den die individuelle Entfaltung in unserer Gesellschaft hat. Rücksichtnahme auf andere Menschen zugunsten der Verbundenheit – aktuell etwas schwierig. Auch die Beschleunigung des täglichen Lebens fördert stabile Beziehungen nicht – im Gegenteil. Menschen sind zunehmend Getriebene, tun gedankenlos das, was sie immer tun, und überlegen sich zu wenig, was ihnen wirklich gut tut.

Auf wie viel Verwirklichung eigener Wünsche bist du bereit zu verzichten zugunsten von mehr Verbundenheit mit anderen Menschen?

Verbundenheit – die wertvolle Ressource

Ein stabiler Befund der Bindungsforschung ist, dass kleine Kinder mit einer sicheren Bindung zu ihren Eltern und den engsten Bezugspersonen einen lebenslangen Vorteil haben gegenüber denen, die keine solche Bindung erlebt haben. Zum Aufbau einer sicheren Bindung gehört, dass Eltern ihren Kindern feinfühlig begegnen und auf deren Bedürfnisse eingehen. Dazu sind länger andauernder, liebevoller Blickkontakt (statt dem ständigen Blick aufs Handy) und Körperkontakt unverzichtbar – neben der Kommunikation mit Worten natürlich. Kleine Kinder brauchen das, um ihren emotionalen Tank zu füllen. So entsteht eine emotionale Bindung zu den Eltern, die sich über die Jahre hinweg natürlich weiterentwickelt. Sicher gebunden zu sein ist eine wichtige Erfahrung für die Gestaltung enger Beziehungen zu anderen Menschen im späteren Leben. Unsicher gebundene Kinder haben, wenn sie selbst Eltern werden, überdurchschnittlich häufig selbst wieder unsicher gebundene Kinder. Tragischerweise geht das Problem auf die nächste Generation über.

Sicher gebundene Kinder haben weniger Probleme, sich in die Welt hinauszuwagen und diese zu erkunden. Das beginnt bereits mit dem Eintritt in Kindergarten und Schule und setzt sich später fort. Eine sichere Bindung gibt den Kindern das nötige Selbstvertrauen, um den eigenen Platz im Leben zu finden: Beruf, Wohnort, eigene Familie und ein gutes Beziehungsnetz. Unter dieser Voraussetzung sind sicher gebundene Menschen viel eher den Her­ausforderungen des Lebens gewachsen.

Beziehungen brauchen Zeit!

Dieser Grundsatz ist so banal, dass es schon fast peinlich ist, ihn zu erwähnen. Aber genau hier liegt ein Problem. Der Psychologe Heiko Ernst schrieb schon vor vielen Jahren, dass die Zeit, die man mit der Familie verbringt, zunehmend einem Boxenstop beim Autorennen gleicht: Kurze Aufenthaltsdauer, schneller Kleiderwechsel, rascher Austausch von Informationen, schnell noch etwas essen und weiter geht es. Für emotional gesunde Beziehungen muss man schon etwas mehr Zeit investieren: Zeit zum Plaudern, zum gemeinsamen Spielen, zum genussvollen Essen (auch wenn es etwas Einfaches ist), für Spaziergänge oder Bergwanderungen.

Ich selbst hatte die mit Abstand entspanntesten Gespräche mit meinem Vater, wenn ich mit ihm zusammen auf der Baustelle arbeitete. Er war Handwerker und nicht Mundwerker. Am Tisch wurden keine tiefer gehenden Gespräche geführt, das lag ihm nicht. Aber wenn wir stundenlang miteinander arbeiteten, dann wurden die Gespräche persönlicher, es entstand Vertrautheit. Ohne Vertrautheit keine Beziehungen! Eigentlich auch banal.

Die Zeit, die man für Beziehungen investiert, steht natürlich nicht für anderes zur Verfügung. Die Pflege von Beziehungen kostet etwas, aber es ist eine wertvolle Investition. Nur wenn genügend reale persönliche Berührungsflächen vorhanden sind, dann erfüllt auch digitale Kommunikation einen guten Zweck.

Die Pflege von Beziehungen kostet etwas, aber es ist eine wertvolle Investition.

Eigentlich wäre der Sonntag als Ruhetag ideal für die Pflege von Beziehungen und das Erleben von Verbun­denheit: Verbundenheit mit anderen Menschen, mit Gott und auch mit sich selbst. Hand aufs Herz: Worauf könnten oder sollten wir am Sonntag verzichten, um mehr Verbundenheit zu erleben?

Geliebt, um zu lieben

Der Mensch kommt als schier unendlich bedürftiges Wesen auf die Welt – vollkommen abhängig von der Versorgung durch andere Menschen, am Anfang vor allem durch die Mutter. Dabei geht es nicht nur um die Versorgung mit Nahrung, sondern fast ebenso wichtig um die Vermittlung von Liebe und Zuwendung. Wer über Jahre hinweg die Erfahrung gemacht hat, geliebt zu sein, so wie sie oder er ist, der kann auch andere lieben, so wie sie sind. Auch die etwas Eigenartigen, die Speziellen, die kulturellen Aussenseiter und die Schwierigen. Hierfür reichen Sympathie, gemeinsame Ansichten und geteilte Interessen aber nicht aus. Dafür brauchen wir das, was in der Bibel «Agape» genannt wird. Agape hat zunächst wenig mit warmherzigen Gefühlen zu tun, aber viel mit aufmerksamem Zuhören, mit der Investition von Zeit, Empathie und tatkräftiger Unterstützung.

Wer in seiner Gottesbeziehung erlebt, von Gott vorbehaltlos geliebt zu sein, der erfährt in der Tiefe seiner Person eine heilsame Veränderung. Geborgen in der Verbundenheit mit dem lebendigen Gott zu sein ist eine ungeheuer wertvolle Realität. Magnus Malm schreibt, dass jede christliche Gemeinschaft dar­auf angewiesen ist, dass es einige in ihr gibt, die die Liebe Gottes persönlich erfahren haben. In ihrer Nähe ist es einem einfach wohl, ohne dass diese allzu viel tun müssen. Aber gelegentlich begegnen mir langjährige Christen, die nebenbei erwähnen, dass das mit der Liebe Gottes noch nicht in ihr Herz gerutscht ist. Nach meiner Erfahrung gibt es auch keine Rutschbahn vom Kopf ins Herz. Aber es gibt die Möglichkeit, die Gerhard Tersteegen in dem bekannten Lied «Gott ist gegenwärtig» erwähnt: «Du durchdringest alles; lass dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte! Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne stille halten, lass mich so still und froh deine Strahlen fassen und dich wirken lassen!»

Wer in seiner Gottesbeziehung erlebt, von Gott vorbehaltlos geliebt zu sein, der erfährt in der Tiefe seiner Person eine heilsame Veränderung.

Zeit, um Gottes Gegenwart und Liebe auf sich wirken lassen, damit die Wärme über das Gesicht immer tiefer ins Herz eindringt. Zeit, um persönliche Gedanken und Anliegen, Zweifel, Klage und Dank vor Gott auszubreiten. Eine wichtige geistliche Übung!

Fazit

Manuela K. ist eine fiktive Person, sie existiert nicht wirklich. Aber ihre Situation ist tragischerweise nicht fern der Realität. Was sie erlebt, kann auch einem Manuel passieren. Nicht nur im Blick auf pensionierte Männer gibt es das Bonmot: «Willst Du einen Freund, kauf dir einen Hund.»

Unsere Gesellschaft braucht dringend mehr Verbundenheit. Mehr Verbundenheit – innerhalb der Kernfamilie und darüber hinaus; innerhalb der Gemeinde und darüber hin­aus. Miteinander essen, trinken, etwas unternehmen. Echtes Interesse am anderen. Zuhören, wo andere der Schuh drückt und was ihnen wichtig ist. Zeit und Gefühle miteinander teilen. Sich freuen mit den Fröhlichen und weinen mit den Weinenden (Römer 12,15). Einander tatkräftig unterstützen.

Eigentlich alles nichts Neues, man muss es nur tun. «Machen ist wie Wollen, nur krasser» – sagen die Jüngeren. Da ist was dran!

Mehr Verbundenheit hat viel mit geistlicher Erneuerung zu tun.

Wie hast du’s mit der Verbundenheit? Ist es okay, wie es gerade ist, oder vermisst du etwas?
Hast du wohltuende Erfahrungen mit Beziehungen gemacht? Sei Gott dankbar dafür und überleg dir, welche Beziehungen du gezielt pflegen willst.
Worauf willst du verzichten, um Zeit für Beziehungen zu haben? Stell dich dieser unangenehmen Frage, damit deine Vorsätze nicht beim Wollen bleiben.

Dieter Bösser, Schriftleiter