Christen und der Umgang mit der aktuellen Politik

Uwe Heimowski

In den vergangenen Jahren gab es in Deutschland mehrere Untersuchungen und Befragungen zum Thema Politikverdrossenheit. Viele Bürger, besonders junge Menschen, gaben an, dass sie von den traditionellen Parteien enttäuscht seien. Die Gründe sind vielfältig: Ende 2024 befragte der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) 22000 Menschen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Mehr als die Hälfte gaben an, dass sie seit der Corona-Pandemie das Vertrauen in die Politik nachhaltig verloren hätten. Vielen Jungen ist der Kampf gegen die Klimakrise nicht entschieden genug. Unternehmer beklagen die ausufernde Bürokratie. Dazu kommen die Krisen im Bildungs- und Gesundheitswesen. Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten verunsichern uns alle. Und das blamable Scheitern der Ampel-Regierung hat wenig geholfen, das Vertrauen zurückzugewinnen.

Das Leiden vieler Christen an der Politik

Von 2016 bis 2023 war ich der politische Beauftragte der Deutschen Evangelischen Allianz und habe viele unterschiedliche Kirchen und Gemeinden besucht. Auch hier ist mir regelmässig eine grosse Enttäuschung begegnet: Christliche Werte, wie der Schutz des ungeborenen Lebens oder die Unterstützung der klassischen Familie, spielen in der Politik eine immer kleinere Rolle.

Einiges von der Enttäuschung ist sicher auf eine «narzisstische Kränkung» zurückzuführen, wie mein Freund Konstantin Mascher (OJC) es nennt, nämlich den Umstand, dass die Zahl der Kirchenmitglieder in Westeuropa deutlich schrumpft, und Christen in Deutschland zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik in der Minderheit sind, was automatisch mit einem schmerzlichen Geltungsverlust einhergeht.

Aber das ist nicht alles: Viele Christen können immer mehr konkrete politische Entscheidungen nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Auch haben sehr viele das Gefühl, dass die Religionsfreiheit in Frage gestellt wird. Und dass sie manches, was sie von der Bibel her als Wahrheit erkannt haben, nicht mehr sagen dürfen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

Enttäuschungen auf vielen Seiten

Ein grosses Versäumnis der Politik ist nach meiner Einschätzung, dass sie diesen Stimmen zu wenig Gehör schenkt. Wenn die etablierten Parteien den Menschen nicht zuhören, dann überlassen sie das Feld den Populisten, die mit grossem Eifer den Finger auf die Versäumnisse legen. Deren einfache Antworten verfangen schnell, bieten aber – das zeigt in vielen Fällen ein einfacher Faktencheck – wenig an wirklicher politischer Substanz. Doch wir erleben auch: Die Wähler sind von Abgrenzungen wenig beeindruckt. Wer sie zurückgewinnen möchte, muss den Mut haben, die eigenen Fehler zu erkennen und zu korrigieren.

An dieser Stelle möchte ich aber einmal die Perspektive wechseln. Enttäuschung kennen nicht nur Bürgerinnen und Bürger. Auch viele Politiker müssen damit umgehen. Das ist nicht einfach. Schon gar nicht in einer Zeit, in der persönliche Angriffe in den sozialen Medien zum Alltag werden, und auch Übergriffe auf Mandatsträger und Kandidaten immer häufiger vorkommen. Viele Verantwortungsträger ziehen sich zurück. Es gibt Gemeinden, die keinen Bürgermeister mehr wählen können, weil niemand bereit ist, sich zur Wahl zu stellen.

Die Last der Verantwortung

Vielen Wählern, auch Christen, ist diese Seite der Medaille nur wenig bewusst. Wir sind frustriert, sehen aber nur selten, mit wieviel Einsatz (und Risiko) die meisten Politiker arbeiten. Wir brauchen eine neue Kultur der Wertschätzung für Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu tragen. Schon Paulus schreibt: «Betet besonders für alle, die in Regierung und Staat Verantwortung tragen, damit wir in Ruhe und Frieden leben können, ehrfürchtig vor Gott und aufrichtig unseren Mitmenschen gegenüber» (1. Timotheus 2,2).

«Betet besonders für alle, die in Regierung und Staat Verantwortung tragen.»

Paulus lebte wahrlich nicht in Zeiten einer demokratischen, rechtsstaatlichen Grundordnung. Christen wurden massiv verfolgt. Und doch macht er deutlich: Eine gute Regierung ist eine Notwendigkeit, sie sichert den Frieden und den Wohlstand in einem Land. Dar­um sollen wir sie mit unseren Gebeten begleiten. Und wer für einen Menschen betet, der kann ihn nicht gleichzeitig hassen. Womit wir bei zwei wesentlichen Punkten sind, bei denen die Christen in unserer Zeit besonders gefordert sind: als Beter – und als Überwinder von Hass.

Zwei wesentliche Punkte, bei denen Christen unserer Zeit besonders gefordert sind: als Beter – und als Überwinder von Hass.

Das Beste für die Menschen suchen

Einen dritten Punkt, den ich mir für uns Christen in der heutigen Zeit wünsche, hat bereits Jeremia formuliert: «Suchet der Stadt Bestes» schrieb er an die Vertriebenen in Babylon (Jeremia 29,7). Das Beste suchen heisst aktiv werden – und Verantwortung übernehmen.

In der sogenannten «Goldenen Regel» fasst Jesus alle Gebote zusammen: «Was ihr wollt, das euch die Leute tun, das tut ihr ihnen zuerst» (Matthäus 7,12). Ich übersetze das so: «Wartet nicht darauf, dass andere euch etwas Gutes tun. Fangt ihr damit an. Liebe Christen, seid aktiv, gestaltet, stellt euch an die Spitze, wenn es darum geht, etwas für das Wohl der Menschen und der Gesellschaft zu tun.»

«Wartet nicht darauf, dass andere euch etwas Gutes tun. Fangt ihr damit an.»

Gerechtigkeit und Frieden entstehen nicht, indem wir uns in unsere gemeindliche Binnenwelt zurückziehen. Resignation ist keine christliche Tugend, verständliche Enttäuschung hin oder her. Sondern indem wir Ungerechtigkeiten beim Namen nennen. Indem wir für die Rechte von Benachteiligten kämpfen. Indem wir dahin gehen, wo gestritten wird, um Frieden und Versöhnung zu bewirken. Christen sollen Jesus folgen, der Seine Stimme erhoben hat für Frauen und Kinder, für Zöllner und Sünder, für Kranke und Besessene, für Sein eigenes Volk und für die Fremden.

Wenn Christen politisch aktiv werden …

Die Berufungen von Menschen sind verschieden. Nicht jeder hat den Auftrag, aktiv in einer Partei mitzuwirken. Doch es sollten (wieder) mehr werden. Wie sonst kommen die Themen, die uns am Herzen liegen, auf die politische Agenda? Und wenn dann Christen politisch aktiv werden, sollten wir sie mit – durchaus konstruktiv-kritischer – Wertschätzung und unseren Gebeten begleiten.

Und wir sollten, wann immer es möglich ist, auch im politischen Raum mal wieder ein anderes Lied als ein Klagelied anstimmen: «Grosser Gott, wir loben Dich.»

Betet! Betet für Menschen mit politischer Verantwortung. Das haben wir viel zu lange vernachlässigt!
Respekt: Auch wenn manche politische Diskussion irritierend ist, lasse ich es nicht am Respekt gegenüber anderen fehlen.
Gerechtigkeit und Frieden: Wo und wie kann ich mich für diese zentralen Anliegen Gottes einsetzen?
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Uwe Heimowski (*1964) ist geschäftsführender Vorstand von Tearfund Deutschland, einer christlichen Organisation für Entwicklungszusammenarbeit. Der Pädagoge und Theologe war 15 Jahre Pastor und von 2016 bis 2023 politischer Beauftragter der Evangelischen Allianz in Deutschland. Er ist verheiratet mit der Adel­bodnerin Christine; sie haben fünf gemeinsame Kinder und leben in Gera, Thüringen.