Gemma Zukunft Reportage / Martin Jordan

k.u.k. einmal anders gedacht. Weg von „Kaiserlich und Königlich“ hin zu „Kultur und Klimaschutz“. Stadtführungen waren einst eine Reise in die Vergangenheit. Heute führen sie uns auch in die Zukunft. Bei den Touristenführern der „Austria Guides For Future“ stehen nicht nur kaiserliche Geschichten, sondern auch klimaschützende Visionen auf dem Programm.

„Nicht der schönste Treffpunkt für unsere Tour, aber wir ziehen gleich los“, lächelt Tourguide Marko Iljic als er seine Gruppe bei der U-Bahn-Station Alt-Erlaa begrüßt. Die braunen Vertäfelungen der Wiener U-Bahn Linie U6 kombiniert mit viel Beton lassen hier den Charme der 70er Jahr durchblitzen.

Der Tourguide stellt sich vor und erklärt den Ablauf der Führung. „Gemma Zukunft – Alt-Erlaa und der Liesingbach“ ist die Überschrift des zweieinhalbstündigen Stadtspaziergangs am sonnigen Sonntagnachmittag Anfang Juni. Es wird um nachhaltige Stadtentwicklung und Renaturierung gehen. Die geplante Route führt vorbei an den beeindruckenden hängenden Gärten des Alt-Erlaa Wohnprojekts, weiter zum idyllischen Harry-Glück-Park und entlang des Liesingbachs, bevor sie bei der OSRAM-Brücke und der Kirche des Wohnparks Alt-Erlaa endet. Abseits der ausgetrampelten Touristenpfade. Ein Spezialgebiet von Marko.

Marko ist Stadtführer, 61 Jahre alt, trägt eine Brille, einen grauen Anzug, ein blau gestreiftes Hemd und bequeme GEOX-Schuhe. Und er trägt eine große rote Umhängetasche. Auf dessen Taschenbund hat er unübersehbar einen großen „Austria Guides For Future“-Button geheftet. Den Verein, für den er als Guide tätig ist.

Marko Iljic beim Start der Stadtführung

„Gemma Zukunft“

Zu Beginn gibt Marko einen geografischen Überblick über den 23. Bezirk und erläutert dessen Entwicklung vor der Bebauung. „Wohnt von Ihnen jemand hier in der Gegend?“, fragt Marko in die Runde. Er liebt den Dialog mit seinen Gruppen und möchte stets auf deren Interessen eingehen. Diesmal ist niemand dabei.

Erster Stopp der Tour im Kaufpark Alterlaa

Die von der Stadt Wien gemeinsam mit der Mobilitätsagentur Wien und wien3420 organisierte Tour ist für die Teilnehmer kostenlos. Unter dem Programmnamen „Gemma Zukunft“ bieten sie Spaziergänge zu Themen der nachhaltigen Stadtentwicklung, klimafitte Bestandsstadt, Grünräume sowie Mehrfach- und Zwischennutzungsflächen in Wien an. Angemeldet zu dieser Tour sind diesmal 20 Personen. Gekommen sind nicht alle. Elf Frauen und vier Männer bilden die heutige Gruppe.

Vorreiter

Aus vielen Teilen Wiens sieht man eines der heutigen Ziele in den Himmel ragen: die drei markanten Betonblöcke des Alt-Erlaa Wohnparks. Die Gebäude gehören zu den größten Wohnanlagen Österreichs. Über 9000 Menschen wohnen hier. Fertiggestellt wurden die Bauten zwischen 1973 und 1985.

Marko führt die Gruppe zu den Gebäuden des Wohnprojektes. Die Bauten sind um die 50 Jahre alt, 27 Stockwerke hoch und über gute asphaltierte Wege direkt mit der U-Bahn-Station verbunden. Die Bewohner leben in den etwa 3200 Wohnungen mit insgesamt 35 Grundrissen. Trotz der vielen Bewohner ist es sehr ruhig hier an diesem Sonntagnachmittag.

Um die Bedeutung und Aktualität des Wohnprojektes zu verstehen, nimmt Marko die Gruppe erstmal in die Vergangenheit mit. Los geht es in den 70er Jahren, als der Alt-Erlaa Wohnpark gebaut wurde. Der leitende Architekt der Anlage, Harry Glück, gilt bis heute als Pionier des Ökobaus. Auf den ersten Blick haben die Wohn-Betonklötze nicht viel mit Nachhaltigkeit oder Klimaanpassung zu tun. Aber der Schein trügt ein wenig. Die Anlage gilt auch heute noch als Paradebeispiel einer funktionierenden Satellitenstadt. „Wohnen wie Reiche, auch für Arme“ war das Credo von Harry Glück. Er wollte den Bewohnern alles bieten, was ein Luxushotel zu bieten hat: ein Pool auf den Dächern jedes Gebäudes, viele Grün-Terrassen, Balkone und viel Grünraum rund um die Gebäude, mit dem Liesingbach als fließendes Gewässer in der Nähe. Die Wohnkomplexe umfassen zudem sieben Saunas, zwei Kindergärten, drei Schulen, Indoorspielplätze und Gemeinschaftswerkstätten. Revolutionär zur Zeit der Entstehung und aktueller denn je heute.

Unterwegs im Wohnpark Alt-Erlaa

Polster und Krankl

Die Popularität zieht in der Vergangenheit auch bekannte Persönlichkeiten an. So haben unter anderen Hans Krankl und Toni Polster in der Anlage gewohnt. Auch heute herrscht eine hohe Nachfrage nach den Wohnungen. Derzeit warten Interessenten etwa zehn Jahre auf eine Wohnung in der Anlage. „Das Durchschnittsalter der Bewohner der Gebäude ist älter als in anderen Wohnsiedlungen, das bedeutet, dass sich die Leute dort wohl fühlen“, erklärt Marko. Die Miete dort beträgt durchschnittlich 9 Euro pro Quadratmeter inklusive Nebenkosten.

Die Tourguides der Zukunft

Neben den generellen Erklärungen und Fakten richtet Marko den Fokus immer wieder auf seine Kerngebiete: Klimagerechtigkeit und die Stadt der Zukunft. So weist er unterwegs auch kurz auf das „Öklo“ hin, das auf dem Spielplatz steht. Auch auf das Urban Gardening auf dem Gelände der Anlage, wo Leute Hochbeete beackern. Außerdem sorgt eine neue Tamburi-Box zwischen den Wohnblöcken dafür, dass die Bewohner ihre Pakete rund um die Uhr empfangen und abholen können. Die Information, dass die größeren Schließfächer der Box eine Luftzufuhr haben, damit Tiere oder Kinder nicht ersticken sollten sie dort eingeschlossen werden, bleibt wohl auch nachhaltig in Erinnerung. Ein paar skurrile Fakten müssen natürlich auch bei jeder Tour dabei sein.

Marko kam im Alter von zehn Jahren mit seinen Eltern als „Gastarbeiterfamilie“ nach Wien. Er studierte Geografie an der Universität Wien und arbeitete danach 25 Jahre als Sozialmanager und Stadtteilarbeiter. Gesundheitliche Probleme zwangen ihn zu einem Richtungswechsel. 2017 startete er die Ausbildung zum Fremdenführer. Seit 2019 ist er staatlich geprüfter Fremdenführer. Ein schwieriger Zeitpunkt, um als Guide zu starten. Er war gerade mal ein halbes Jahr als Touristenführer unterwegs, als Corona die Straßen Wiens leerfegte. Eine Vollbremsung. Markos Geschichte kann man aber auch als Beispiel für die Kreativität der Menschen in schwierigen Situationen hernehmen.

Not macht erfinderisch

Er nutzte die Zeit des Lockdowns, um mit seinen Kolleginnen und Kollegen aus seinem Ausbildungslehrgang Neues zu gestalten. Man wollte nicht zur Untätigkeit verdonnert sein. In Zoom-Meetings wurden neue Konzepte erarbeitet, die auch sofort Anklang fanden. Die Klima-Wissensvermittlung kristallisierte sich schnell als gemeinsames Interesse heraus. Später kamen noch Zukunftsthemen wie Stadtplanung und Stadtentwicklung hinzu.

Der Verein „Austria Guides For Future“ war geboren. Aktuell hat er acht Mitglieder. Sie bieten rund 20 unterschiedliche Touren an, mit dem Fokus auf Wien der Zukunft und Klimagerechtigkeit in allen Lebenslagen. Die Touren haben klingende Namen wie „Am schönen blauen Donaukanal“ oder „Eine kühle Brise weht“. Die Guides der „Austria Guides For Future“ sind Pioniere auf diesem Gebiet. Ähnliche Konzepte im In- und Ausland gibt es kaum, sagt Marko. Das Interesse an ihren Touren ist groß. Gebucht werden sie von öffentlichen Institutionen wie dem Klimaschutzministerium und Bildungseinrichtungen, aber manchmal auch von Privatkunden, zum Beispiel als Geburtstagsgeschenke. Die meisten Kunden sind Einheimische, Marko führte aber auch schon Gruppen aus Malaysia und die USA durch die Stadt.

Die Grabsteine am Liesingbach

„Endlich der Liesingbach, wegen dem bin ich ja gekommen“, freut sich Inge, eine ältere Dame mit rot gefärbten Haaren und Nordic Walking Stöcken aus dem 9. Bezirk in Wien, als Marko den Liesingbach als nächsten Stopp der Tour ankündigt. Sie nimmt immer wieder an Erkundungstouren in Wien teil. Manchmal mit Freunden und Verwandten. Diesmal ist sie alleine gekommen. In der Corona-Pandemie hat sie begonnen, sich für die Stadt und ihr Umfeld zu interessieren, „weil man ja nicht weg konnte“.

Das gepflasterte Bachbett des Liesingbachs

Marko führt die Gruppe quer durch den 123.000 m² großen Harry-Glück-Park, der den Alt-Erlaa Wohnpark einschließt, zum Liesingbach. Der Bach entspringt im Wienerwald, durchquert den 23. Bezirk und mündet schlussendlich in Niederösterreich in die Schwechat. Er begrenzt das Alt-Erlaa Wohngebiet im Norden. Über eine einfache Treppe führt Marko seine Gruppe die steile Böschung zum Flussbett hinunter. Der Bach führt gerade nur sehr wenig Wasser, kann aber bei Starkregen stark anschwellen und Hochwasser verursachen. Aktuell läuft ein von der EU gefördertes Projekt zur Renaturierung des Baches und zur Verbesserung des Hochwasserschutzes auf einer Länge von etwa neun Kilometern, erklärt Marko. Dabei soll als Maßnahme u. a. das mit großen Steinen gepflasterte Flussbett wieder aufgebrochen werden. Die Steine werden anschließend direkt vor Ort zerkleinert und dann wieder ins neue Flussbett eingebaut. Die Renaturierung soll so ökologisch wie möglich über die Bühne gehen.

„Wurden hier auch Grabsteine für die Regulierung im Flussbett verbaut?“, fragt eine Teilnehmerin. „Nur in Rodaun“, will ein anderer Tour-Teilnehmer wissen. Vor 50 Jahren war es laut der Stadt Wien üblich, herrenlose Grabsteine als Baumaterial zu verwenden. Recycling quasi. Auch nachhaltig. Über Pietät kann man natürlich diskutieren. In der Vergangenheit gab es unter Anrainern schon öfters Aufregung aufgrund der sichtbaren Inschriften im Flussbett. Die zuständige Magistratsabteilung MA45 (Wiener Gewässer) ließ daraufhin die Grabsteine abschleifen. Die Gruppe sucht mit kontrollierenden Blicken das verbaute Flussufer ab. Grabsteine können sie keine entdecken.

Rund um den Liesingbach

Planung

Marko bringt während der ganzen Tour viele Fakten. Später sagt er, dass er bei Touren nur ca. ein Viertel dessen erzählt, was er an Information und Geschichten im Kopf hat. Was er erzählt, hängt stark von der Gruppe ab: von deren Expertise bzw. Vorwissen und von der Gruppendynamik. Die Erstellung einer 2,5-Stunden-Tour wie dieser bedeutet für ihn ungefähr eine Arbeitswoche an Recherche- und Planungsaufwand.

Marko achtet darauf, dass seine Touren stets einem klaren roten Faden folgen, der die Teilnehmer durch die Geschichte führt. Zur Vorbereitung druckt Marko einen Tourplan mit Stichwörtern aus, den er während der Führung kaum benötigt – alles ist in seinem Kopf.

Stadtführungen neu denken

Marko Iljic brennt dafür, mit seiner Art der Wissenskommunikation seinen Beitrag für eine gute, klimagerechte Zukunft zu leisten. Er hofft, dass das Thema Klimaschutz noch stärker Platz findet im Tourismus. Auch bei den vermeintlich „klassischen Touren“ sollte es vermehrt zur Sprache kommen. „Es wäre gar nicht viel Aufwand, die historischen Touren um diesen Aspekt zu erweitern“, meint er. Er und die „Austria Guides For Future“ wollen die Neugestaltung der Tourismusbranche in diesem Punkt vorantreiben. Ein wichtiger Schritt wäre es, das Thema Klimaschutz auch in die generelle Ausbildung zum Fremdenführer zu integrieren. Dort kommt es aktuell kaum bis gar nicht vor.

Abschluss der Tour im Schatten im Harry-Glück- Park

Die heutige Tour endet wieder im Harry-Glück-Park im Schatten der Bäume am Vorplatz der Wohnparkkirche. Auch sie ist ein zentraler Teil der Stadt in der Stadt. Marko verabschiedet sich von den Teilnehmern und bekommt ehrlichen Applaus. „Ein gutes Zeichen, dass er seine Sache gut gemacht hat“, erzählt er später dankbar. Trinkgeld bekommt er diesmal keines. „Dies ist bei Gratistouren aber auch nicht so üblich“, sagt Marko. „Außer es sind Amerikaner dabei, die geben fast immer was“.

Reportage von Martin Jordan | www.martin-jordan.com | martin@martin-jordan.com

ERSTELLT VON
Martin Jordan

Danksagung:

Reportage von Martin Jordan | 02.06.2024