Zur kulturellen Dimension unseres Christseins Wahrnehmungen und Herausforderungen

Jürgen Schuster

An einem kalten Morgen in der Weihnachtszeit stehen wir zu dritt vor dem Versammlungsraum einer kleinen evangelischen Gemeinschaft im Nordschwarzwald. Wir unterhalten uns über die nahegelegene Dauerausstellung von Weihnachtskrippen. «Dort gehen wir nicht hin», sagt der ältere Herr neben mir. «Das ist doch Götzendienst.» Zweifellos meint er die vielen Maria-Figuren dort im Haus. Meine spontane Antwort: «Aber denken Sie nicht auch: Was dort gezeigt wird, hat mehr mit Weihnachten zu tun als der Weihnachtsbaum, den Sie und ich zuhause im Wohnzimmer stehen haben?»

Kulturelle Brillen

Wir alle deuten die Welt durch unsere kulturelle Brille. Das hat viele Vorteile. Es hilft uns, uns zügig zu orientieren und zu entscheiden. Dabei kommt es jedoch auch zu verzerrten Wahrnehmungen. Denn wir beurteilen das, was uns fremd ist, eben nur aus unserer eigenen Perspektive. Das steht einem wirklichen Verstehen oft im Weg. Gleichzeitig kann unsere kulturelle Brille auch zu einem Tunnelblick führen. Was uns vertraut ist, erscheint automatisch richtig. Andere Perspektiven geraten gar nicht erst in den Blick.

Was uns vertraut ist, erscheint automatisch richtig.

Stichwort «Machbarkeit»

Menschen, die in der Natur zuhause sind, haben ein Verständnis für eine organische Sicht der Welt. Landwirte etwa wissen: Wir können eine gute Ernte nicht «machen». Sonne, Wind und Regen sind unserer Verfügungsgewalt entzogen. Die industrielle Revolution hat uns – im Gegensatz dazu – eine mechanische Sicht der Welt gelehrt: Wachstum ist machbar! Alles, was wir brauchen, sind Rohstoffe, Technik, Arbeitskräfte und einen Absatzmarkt. Die Wachstumsmöglichkeiten erscheinen grenzenlos.

Heute sind wir mit den Folgen dieser Fehleinschätzung konfrontiert. Die öko­logischen Krisen und ihre sozialen Konsequenzen fordern uns alle heraus. Wir Christen müssen neu über Gottes Berufung für uns Menschen nach­denken. Im Namen Gottes die Welt zu verwalten hat mit Fürsorge zu tun, nicht mit Ausbeutung. Wir brauchen eine kritische Reflexion der Ideen von Machbarkeit und Wachstum.

Wir Christen müssen neu über Gottes Berufung für uns Menschen nach­denken.

Das gilt auch für Fragen der Gemeindeentwicklung. Manche Modelle für Gemeindewachstum bauen auf eine mechanische Sicht der Welt. Mit den richtigen Methoden – der richtigen Musik etwa oder Sucher-orientierten Gottesdiensten – geschieht Gemeindewachstum quasi von selbst. Der Aspekt der Machbarkeit ist offensichtlich.

Auch die Rolle von Pastoren erscheint vor dieser Unterscheidung in ganz unterschiedlichem Licht. In einer mechanischen Weltsicht wird ein Pastor als Gemeindemanager verstanden. Gestalten, motivieren, zum Wachstum führen sind seine Hauptaufgaben. Der traditionelle Begriff «Pastor» (lat. «Hirte») entstammt einer organischen Sicht der Welt. Begleitung und Fürsorge spielen hier die zentrale Rolle. Es geht nicht darum, die unterschiedlichen Perspektiven gegeneinander auszuspielen. Aber wir müssen uns über Stärken und Schwächen der Modelle im Klaren sein.

Stichwort «Habgier»

Kerstin Schmidt zeigt in einem lesenswerten Beitrag zum Ethik-Forum, wie Habgier in der Neuzeit nicht länger als «Todsünde», sondern als Motor für wirtschaftliche Entwicklung bewertet wird. «Ohne Gier kein Fortschritt», so der Sozialtheoretiker Bernard Mandeville. Bescheidenheit ist aus ökonomischer Sicht alles andere als wünschenswert. Konsum soll ja nicht nur Mangel stillen, sondern auch neue Bedürfnisse wecken. «Das unstillbare Verlangen des Menschen nach Mehr ist somit ein entscheidender Grundpfeiler des gesamten Systems» (Kerstin Schmidt, https://ethikinstitut.de/wirtschaftsethik/die-habgier-des-menschen-im-licht-der-bibel/#). Das muss uns als Christen nachdenklich stimmen. Die biblische Sicht des Themas Habgier ist eindeutig (vgl. Lukas 12,15; Epheser 5,3 u. a.).

Stichwort «Individualismus»

Alle Kulturen haben Stärken und Schwächen. Das Evangelium will immer auch Kontrapunkte in einer Gesellschaft setzen. Ein Beispiel: Als Missionar in Japan habe ich Christen oft ermutigt, eigene Entscheidungen auch gegen den Druck des gesellschaftlichen Mainstreams zu treffen. Dabei geht es nicht nur um Fragen eines religiösen Bekenntnisses. Es geht auch darum, einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen. Denn jede menschliche Gemeinschaft braucht Wege, andersdenkende Menschen zu respektieren und zu integrieren.

Es geht auch darum, einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen.

Während unserer USA-Aufenthalte hat­te ich den Eindruck, ich müsste gegenteilige Akzente setzen. Die Gemeinde hier war – wie die Gesellschaft – eine Sammlung von Individualisten, die wenig voneinander wussten. Ein Bewusstsein für Gemeinschaft und gegenseitige Verantwortung zu stärken, war hier angesagt.

Stichwort «Vielfalt»

Das Eingangsbeispiel hat gezeigt, dass der Blick durch unsere kulturelle Brille eingeschränkt ist. Vielfalt kann dabei schnell zum Problem werden. Die frühe Kirche unterschied bei dem Disput, der uns in Apostelgeschichte 15 berichtet wird, zwischen der theologischen Frage, ob Heidenchristen auch auf das mosaische Gesetz verpflichtet werden müssen (Antwort «Nein!»), und dem kulturellen Aspekt: Wie können wir als Gemeinde durch gegenseitige Rücksichtnahme die Einheit zwischen Jesus-gläubigen Juden und Heidenchristen bewahren? Die Differenzierung zwischen theologischen und kulturellen Fragen ist wichtig, wenn auch nicht einfach. Theologische Antworten auf kulturelle Fragen zu geben, kann polarisieren und in Sackgassen führen. Sicher, manchmal fordert eine kritische Reflexion der eigenen Kultur auch eine theologische Antwort. Aber bei vielen kulturellen Fragen geht es um Vorlieben, nicht um absolute Referenzpunkte. Die Gemeinde in Jerusalem fand einen gemeinsamen Weg, indem sie Rücksicht nahm auf unterschiedliche kulturelle Gepflogenheiten. Auf diese Weise konnte sie die Einheit der Gemeinde bewahren und stärken.

Ein reflektiertes Bewusstsein der eigenen kulturellen Identität macht uns frei, anderen Menschen in Offenheit und mit Interesse zu begegnen, die eigene Sicht der Welt nicht absolut zu setzen und dabei gleichzeitig theologisch auf Jesus Christus ausgerichtet zu bleiben. Gott jedenfalls liebt Vielfalt in Einheit. «Die Gemeinde muss vielfältig sein, weil die Menschheit vielfältig ist. Die Gemeinde muss eins sein, weil Christus einer ist» (Andrew Walls, englischer Missionshistoriker).

Innehalten – den Einfluss von kulturellen Brillen merkt man erst, wenn man sie absetzt.
Individualismus hinterfragen – seine Lüge: Wenn sich jeder um sich selbst kümmert, dann ist für alle gesorgt.
Begegnung wagen mit Menschen aus anderen Kulturen.

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Zum Weiterlesen

Jürgen Schuster: Multikulti ist gescheitert! Kulturwissen­schaft­liche Anmerkungen zu unserem Um­gang mit Fremden; hidrive.ionos.com/lnk/Md3lcabhC

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Jürgen Schuster (*1957) ist verheiratet und hat eine Tochter. Nach seiner theo­lo­gischen Ausbildung arbeitete er von 1983 bis 1998 als Mis­sio­nar in Japan. Seit seiner Promotion ist er als Dozent tätig, aktuell als Professor für Interkulturelle Theologie an der Internationalen Hochschule Liebenzell (ihl.eu).