Gott ist in der Mitte, alles in uns schweige

Hans-Rudolf Bachmann

Das Schweigen ist in der Bibel gar nicht so leicht festzumachen, aber es ist dennoch überall da, so wie der Zwischenraum zwischen den einzelnen Buchstaben, den wir beim Lesen kaum beachten. Stille und Schweigen gehören wie selbstverständlich zu den Menschen der Bibel, zu den Menschen der Wüste, der Berge und zu den Hirten. Wir Heutigen haben das Schweigen neu zu entdecken. Ich will versuchen, ein wenig davon zu erzählen.

«Sie müend lehre schwige»

Bei meinem blinden Seelsorger meldete sich ein Professor zum Gespräch. Er trat ein, setzte sich an den Tisch und begann zu erzählen und zu analysieren. Wortgewandt entfaltete er seine Situation. Es blieb keine Wortspalte frei für sein blindes Gegenüber. Im Inneren des Seelsorgers aber bewegte sich viel. Als gelernter «Wegglibeck» fühlte er sich solch gelehrtem Reden nicht gewachsen. Nicht wissend blieb er vor seinem grossen Gott. Nach gut einer Stunde fiel die ununterbrochene Rede wie in sich zusammen. Der Professor schaute den Seelsorger an und fragte: «So, was säged Sie jetz?» – «Herr Profässer, Sie müend lehre schwige. Und Ihne fählt s Du.» Ohne auf eine Antwort zu warten stand der Blinde auf: «Uf Widerluege, Herr Profässer!» Nachdem dieser gegangen war, schüttelte es den erfahrenen Seelsorger : «Was han i jetz aagrichtet! Dä chund ganz sicher nie meh.» Er ging hart mit sich ins Gericht und liess dann alles wieder los. Nach zehn Tagen klingelte das Telefon. Es war der Professor: «I muess unbedingt wider zuenene choo. Es zieht mi mit hundert Ross wider an Ihre Tisch.»

Aus Ehrfurcht vor Gott schweigen

«Sei behutsam, wenn du zum Hause Gottes gehst … Sei nicht vorschnell mit deinem Munde und dein Herz übereile sich nicht, etwas vor Gott zu reden, denn Gott ist ja im Himmel, und du bist auf Erden, darum mache nicht viele Worte» (Prediger 4,18; 5,1). Wer eine Schweigezeit erlebt hat und dann versucht, von solchen Erfahrungen zu erzählen, wird bald einmal gefragt: «Wie hast du das ausgehalten, so lange nicht zu reden?» Schweigen wird meist verstanden als Verzicht aufs Reden. Da ist ja etwas Richtiges dran. Aber Schweigen ist mehr. Schweigen wurzelt in der Ehrfurcht vor Gott, in der Ergriffenheit durch Gott.

Schweigen wurzelt in der Ehrfurcht vor Gott, in der Ergriffenheit durch Gott.

Seit meinen Vorbereitungen aufs Hebraicum (Hebräisch-Prüfung im Theologiestudium) liebe ich Martin Bubers Verdeutschung der Schrift, unseres Alten Testaments. Immer wieder bin ich seither fasziniert von seinen überraschenden Formulierungen. Meine Lieblingsentdeckung aus jener Zeit ist seine Übersetzung von 1. Könige 19,12. Der Prophet Elia ist in der Wüste mutlos zusammengebrochen, wurde durch einen Engel gestärkt und marschierte anschliessend 40 Tage und Nächte zum Berg Horeb. Dort begegnet ihm Gott. Zuerst bricht ein gewaltiger Sturm los, dann beginnt die Erde zu beben und als drittes kommt ein Feuer. Und immer wird festgehalten: «Aber der Herr war nicht darin.» Dann aber tritt etwas ein, das Elia zutiefst erschüttert. In meiner damaligen Arbeitsbibel wird dieses Etwas so umschrieben: «Und nach dem Feuer kam die Stimme eines sanften Säuselns.» Ich muss gestehen, dass ich nicht zu jenen gehöre, die auf ein sanftes Säuseln gross reagieren, vor allem wenn Christen anfangen, sanft zu säuseln. Dazu nun Martin Bubers Verdeutschung: «Er im Feuer nicht –, aber nach dem Feuer eine Stimme verschwebenden Schweigens.» Das Schweigen, das zur Gegenwart Gottes gehört, ist verschwebend, nicht machbar, man kann nicht dar­über verfügen. Darin ist Schweigen dem Schlaf verwandt. Es ist Geschenk und Ausdruck der Gnade. Schweigen ist das Gefäss der Stimme Gottes. Solches Schweigen berührt nun auch Elia. Er verhüllt sein Angesicht und tritt her­aus vor seine Höhle. Selbstvergessen steht er da und lauscht. Und darf als erstes sein eigenes Herz gründlich ausschütten …

Schweigen ist das Gefäss der Stimme Gottes.

Schweigen führt zu einer vertieften Selbstwahrnehmung

Ja, unser Herz braucht das Schweigen, damit es sich melden und immer mehr für Gott auftun kann. Wie oft erschrak ich doch über meinem betäubten und verschlossenen Herzen, wenn ich wieder liebevoll vom Schweigen überrascht wurde! Schweigen führt zu einer vertieften, unausweichlichen Selbstwahrnehmung. Wer das Schweigen wählt (und dafür von seinem Umfeld freigegeben wird), tritt ein in einen Prozess, der mir so skizziert wurde: «Der Rückzug in die Einsamkeit und ins Schweigen ist der Wechsel des Herrn, dem man dient. Die Einsamkeit ist ein Raum, in dem die Freiheit ihre zersplitterten Kräfte wieder sammeln kann für die Entscheidung, man selber sein zu wollen: nicht von anderen für sich denken und entscheiden zu lassen, das eigene Ich nicht zu delegieren, sondern sich auf die Wirklichkeit der eigenen, unverwechselbaren Existenz einzulassen.» Die Übung des Schweigens ist Baustein jenes wichtigen Anliegens, das der Apostel Paulus seinem geistlichen Sohn Timotheus ans Herz legt: «Habe acht auf dich selbst und die Lehre!» (1. Timotheus 4,16).

Der Rückzug in die Einsamkeit und ins Schweigen ist der Wechsel des Herrn, dem man dient.

«Gott ist in der Mitte. Alles in uns schweige und sich innigst vor Ihm beuge» (Gerhard Tersteegen). Schweigen meint die Stille auch nach innen. Wir nehmen uns zurück, sind mit allen Fasern unseres Wesens Hörende, verlassen uns auf Gott hin. Ich will dann nicht begreifen, sondern lasse mich ergreifen. Schweigen ist darum für Benedikt von Nursia (zirka 480–547, Gründer des Benediktiner-Ordens) Ausdruck der Demut.

Durch Schweigen gewinnen Beziehungen an Tiefe

Wer Schweigen übt, tut dies nicht nur im Blick auf Gott. Im Schweigen wächst eine innere Haltung der Achtsamkeit, die überall zum Tragen kommt. Im Schweigen wächst die Fähigkeit, das zu hören, was ein anderer Mensch aus seinem Innersten heraus sagen will. Das war für mich eine eindrückliche Entdeckung: Wie Gemeinschaft sich im Schweigen vertieft, wie sich tiefe Begegnung ohne Reden ereignen kann. Wie viele Worte machen wir doch oft, nicht, um einander nahezukommen, sondern um uns gegenseitig vom Leib zu halten! Im Schweigen kann uns auch die Schöpfung wieder zum Gleichnis werden.

Im Schweigen wächst eine innere Haltung der Achtsamkeit, die überall zum Tragen kommt.

Schweigen ist ein Vorbehalt gegenüber unseren Worten und Bildern. Im Schweigen wird uns bewusst, dass Gott selbst immer grösser ist als alle Worte über Ihn, als alle Bilder von Ihm, als alle noch so gute Theologie. Schweigen ist das Gefäss für das Reden Gottes, der Ort, wo die Worte der Schrift zu leuchten und zu leben beginnen, manchmal aber auch schmerzvoll schneidend werden (im Sinne von Hebräer 4,12–13). Wir brauchen die Worte und die Bilder, doch es gilt, sie immer wieder loszulassen, um sie neu zu gewinnen, damit sie uns nicht festnageln, sondern weiterführen zum lebendigen Gott hin. Schweigen ist der Raum, in dem wir die Freiheit zurückgewinnen, im rechten Moment das Richtige zu sagen oder uns nicht zu äussern. «Aus der Ruhe kommt das wirksame, aus der Stille das richtige Wort. Dem Schweigen dagegen entsteigt das wesentliche Wort» (Friso Melzer, 1907–1998, evangelischer Theologe und Sprachwissenschaftler).

Inseln des Schweigens aufsuchen !

Schweigen ist nicht machbar, doch Schweigezeiten müssen manchmal sehr bewusst und energisch erkämpft werden und Orte, an denen Stille und Schweigen noch geübt werden können, brauchen heute speziellen Schutz. Ich denke da ganz besonders an Kommunitäten, Klöster und an die verschiedenen Häuser der Stille. Nicht, dass man Schweigen nur dort erleben könnte. Aber für viele ist das Schweigen so fremd geworden, dass man eine Insel des Schweigens aufsuchen muss, um ein erstes Mal wieder darauf zu stossen. Nachher kann das Schweigen durchaus auch im Alltag entdeckt und gepflegt werden.

Von Sören Kierkegaard (1813–1855, dänischer Theologe und Schriftsteller) stammen die wahrhaft prophetischen Worte, mit denen ich diese Skizze abschliessen will – nicht mit einem Schlusspunkt also, sondern mit einem dringenden Appell: «Schaff Schweigen, hilf andern zum Schweigen! … Gottes Wort kann nicht gehört werden; und soll es durch lärmende Mittel bedient, ausgeschrieen werden, um in all dem Spektakel noch mitgehört zu werden, dann wird es nicht Gottes Wort. Schaff Schweigen! O alles lärmt, und wie man von einem hitzigen Getränk sagen kann, dass es das Blut erregt, so ist in unsrer Zeit jedes, auch das unbedeutendste Unternehmen, auch die nichtssagendste Mitteilung nur darauf berechnet, die Sinne aufzupeitschen, die Massen in Bewegung zu bringen, die Menge, das Publikum, den Lärm! Doch das Umgekehrte ist bald erreicht, die Mitteilung ist schon bald an dem tiefsten Punkt der Inhaltlosigkeit angelangt, und gleichzeitig haben die Mitteilungsmittel das Höchste erreicht in Richtung auf hastige und alles überschwemmende Ausbreitung, und andrerseits, was hat grössere Ausbreitung als das Gewäsch! O schaff Schweigen!»

Zu guter Letzt …

  • Gibt es Zeiten und Orte, wo Sie etwas vom geschilderten Schweigen erlebt haben?
  • Vielleicht haben Sie ganz andere Erfahrungen mit «Schweigen» gemacht, notvolle, beklemmende, schmerzvolle. Da kann es wichtig sein, solches Schweigen zu brechen und darüber zu reden in einem seelsorgerlichen Gespräch.
  • Vielleicht ist Angst da und Sie meiden es lieber, sich aufs Schweigen einzulassen … Vergessen Sie aber nicht: Unser Gott ist ein gnädiger und barmherziger Gott. Er ist unserem Herzen in Liebe gewachsen, was immer ans Licht kommen mag. Am Anfang wird es jedoch wichtig sein, dass Sie von einer erfahrenen Person begleitet werden.
  • Für unsere Ehe ist es ein grosser Segen, dass wir uns gegenseitig jedes Jahr für eine Zeit des Schweigens vor Gott freigeben.
  • Ein letzter, ganz praktischer Tipp in Richtung heilsames Schweigen: Ich verzichte jeden Tag mindestens einmal darauf, negative Dinge über andere weiterzuerzählen …
Impulse zur persönlichen Umsetzung
Schweigen will gelernt sein. Darum ist es hilfreich, sich im Rahmen von Stille-Tagen anleiten zu lassen.
Zeiten des Schweigens in den Alltag integrieren – das muss wie ein wichtiger Termin in die Agenda eingetragen werden.
Es ist ratsam, Erkenntnisse und Impulse aus Zeiten des Schweigens mit einer geistlichen Begleitperson zu besprechen.
Hans-Rudolf Bachmann (*1950), verheiratet mit Kathrin und Vater von vier Söhnen. Nach vielen Jahren im Pfarramt und vierzehn Jahren Mitleitung im Hotel Scesa­plana, Seewis, gehört er seit 2011 zusammen mit seiner Frau zum Drittorden der Kommunität Diakonissenhaus in Riehen. Seine Lieblings­themen zurzeit: «Der Mensch als heiliges Bild, als Ebenbild Gottes» und «Bete und lebe – von der Weisheit der Psalmen».