Auszug und Heimkehr Christian Enderli

Zum Abschluss meiner Weiterbildung in Führung und Organisationsentwicklung am TDS Aarau musste ich einen Text verfassen, um das Gelernte zu reflektieren. Da die Form frei wählbar war, schrieb ich eine Kurzgeschichte über den Umgang einer Leitungsperson mit Erfolglosigkeit. Da diese Geschichte sehr inspirierende Reaktionen ausgelöst hat, stelle ich sie gerne einer breiteren Leserschaft zur Verfügung.

Christian Enderli, Pastor FEG Wil, christan.enderli@feg-wil.ch

Der Absturz

Wie prächtig und farbenfroh doch die Blumen blühen an diesem milden Frühlingstag! Dass er dies so intensiv geniessen würde – die goldenen Sonnenstrahlen, die sein Gesicht wärmen, die hin und her wogende Farbenpracht des sich sanft über die Hügel ausbreitenden Wildblumenteppichs, über dem sich scharfkantige Felsbastionen und gleissende Firnhänge aufwerfen… ein reines Gnadengeschenk!

Wie viele Tage ist es her, seit er in ebendiesen Firnhängen umhergeirrt ist? Er kann sich nicht mehr präzise daran erinnern, ob es bereits sieben Tage sind, oder acht, oder sogar schon zehn seit jenem verhängnisvollen Tag, an dem sie den Gipfel besteigen wollten… Natürlich drängte auch er darauf, endlich den Gipfel dieses Berges zu bezwingen, den sie schon lange genug belagert hatten! Schliesslich sollte ihm der Gipfelerfolg den Schwung verleihen, den er so dringend benötigte, um seine Gemeinde aus diesem Scherbenhaufen heraus wieder hinauf zu neuen Höhen zu führen! Mit dieser persönlichen Erfolgsstory im Gepäck würde es ein Leichtes sein, willige Mitstreiter zu begeistern, die dann für ihn die Karre aus dem Schlamm ziehen würden… doch dann kam ihnen diese Schlechtwetterfront in die Quere, die unerwartet viel Neuschnee brachte… drei Tage lang mussten sie im Hochlager ausharren, während denen es nur stürmte und schneite! Da war selbst ihm klar, dass am ersten sonnigen Tag danach nicht an eine Gipfelbesteigung zu denken war – zu gross war die Lawinengefahr. Doch an jenem Abend riss ihm der Geduldsfaden, zumal bereits die nächste Niederschlagsfront angekündigt war und so drang er darauf, den folgenden Tag zur Gipfelbesteigung zu nutzen. Das wird schon klappen, redete er sich selbst und den Anderen Mut zu, wenn wir mit aller Kraft und Überzeugung daran glauben, wird es möglich werden… mit dieser gedanklichen Fokussierung gelang es ihm früher schon, scheinbar aussichtslose Projekte doch noch erfolgreich zu Ende zu führen. Und auch dieses Mal gelang es ihm, die Hoffnung und die Begeisterung in den Herzen seiner Expeditionsgenossen zu entfachen! Doch er hatte die Rechnung ohne den Berg gemacht… im Aufstieg verlief noch alles nach Plan, doch als er auf dem Gipfel endlich das Panorama geniessen wollte, bemerkte er rasch, dass die Front bereits jetzt herangerollt kam. Kaum hatten sie die Felle von den Skiern gezogen, peitschte der aufkommende Sturmwind die ersten Wolkenfetzen um den Gipfel. Und als die Gruppe in die Gipfelflanke hinabstach, wurden sie alle bald vom Nebel verschluckt… dieser elende, undurchdringbare, alle Konturen zersetzende Nebel! Eigentlich war dieser die Ursache seines ganzen Unglücks… denn als sie zur steilen Traverse kamen, mussten sie diese aus Sicherheitsgründen einzeln befahren… hatte er auch in diesem entscheidenden Moment zu wenig Geduld, dass er nach seinem Vordermann zu früh losfuhr, sie plötzlich zu zweit im Hang waren und dadurch die Lawine auslösten? Wie auch immer, diese riss ihn mit voller Wucht mit sich und pflügte sich ihren Weg unerbittlich talwärts. Zwischenzeitlich wurde es ihm schwarz vor Augen und er fühlte sich hin und her geworfen, wie in einer Wäscheschleuder, bis schlussendlich alles zum Stillstand kam und sich eine unwirkliche Stille um ihn legte. Unwirklich, weil es wieder diese weisse, wattierte, alles schluckende Stille des Nebels war – doch dies bedeutete, dass er nicht verschüttet, sondern irgendwie wieder an die Schneeoberfläche gespült worden war… was dies für ein Riesenglück war, das realisiert er erst jetzt, Tage später, währenddem er sich an dieser Blumenpracht berauscht und einfach nur dankbar ist, dass er noch leben darf!

Die Lawine hatte ihm alles vom Leib gerissen, Skier, Stöcke, seinen Rucksack, in dem er auch das Handy verstaut hatte, nur die Kleider hatte sie ihm gelassen. Und so irrte er im Nebel umher, zuerst auf der Suche nach seiner Ausrüstung und seinen Bergkameraden, doch bald schon musste er einsehen, dass dies absolut aussichtslos war und so begann er in der Falllinie abzusteigen… irgendwann würde er schon die Nebeluntergrenze erreichen… doch der Nebel hatte ihn in den Fängen und gab ihn nicht mehr frei, so lange bis auch sein Zeitgefühl zu verschwimmen begann… ob er zwei oder drei Nächte unter Felsvorsprüngen verbracht hatte, konnte er nicht mehr sicher sagen… irgendwann war ihm dies auch völlig egal und er wollte nur noch schlafen, sich ausruhen, dieser Undurchdringlichkeit des alles verschluckenden Nebels entfliehen… und da erwachte er plötzlich in einem Bett in einem kargen Zimmer. Wie sich bald herausstellte, war er von einem Mönch gefunden und in ein Kloster gebracht worden! Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er auf eine solche Rettung angewiesen war und dann erst noch durch einen Mönch – er, der er doch ein erfolgreicher Gemeindebauer war, stolz darauf, keine toten Gebäude zu unterhalten, sondern lebendige Organismen zu entwickeln…

Die Provokation

Obwohl, interessant war es schon, einmal ein Kloster von innen zu erleben. Sein Retter, der sich ihm als Bruder Michael vorstellte, kümmerte sich hingebungsvoll um seine Genesung. Schon bald war er wieder in der Lage, für kurze Zeit aufzustehen und das Kloster zu erkunden. Und gestern kam der langersehnte Moment, da er das erste Mal einen Spaziergang in der näheren Umgebung des Klosters wagte – was war das für ein überwältigendes Gefühl von Lebendigkeit, als er die ganze Farbenpracht eines sonnigen Frühlingstages in sich aufsaugen konnte! Nur mit dem Atmen hatte er noch grosse Mühe und war bereits nach wenigen Minuten völlig erschöpft von den paar Schritten…

Die Speise der Mönche war einfach, aber sehr nahrhaft und kräftigend, so dass er mit der Rückkehr der körperlichen Energie auch das Verlangen verspürte, geistig aktiv zu werden. So durchforstete er am Morgen die Klosterbibliothek nach Büchern in lateinischer Schrift und war sehr erstaunt, dass er nebst einer Bibel in deutscher Sprache auch Schriften von Martin Buber fand. Er konnte sich noch lebhaft an einen Dozenten erinnern, der ihnen als junge Studenten voller Begeisterung die Bedeutsamkeit dieses jüdischen Religionsphilosophen näherzubringen versuchte – zumindest bei ihm jedoch ohne Erfolg. Nun aber wurde er von dessen Schriftensammlung, die er in Händen hielt, seltsam angezogen und vertiefte sich fasziniert in einen Aufsatz mit dem ansprechenden Titel «Biblisches Führertum». Das war ganz nach seinem Geschmack! Wenn er schon die Tage zwecks körperlicher Erholung hinziehen lassen musste, dann wollte er diese doch zumindest zur Ausweitung seiner Führungskompetenz nutzen.

Doch was er da gelesen hat, das beschäftigt ihn seither den ganzen Tag lang und lässt ihn nicht mehr los… wie konnte sich dieser Buber bloss dazu versteigen, Schwachheit und Erfolglosigkeit als zentrale Charakteristika biblischen Führertums zu beschreiben? Wo wäre er selbst geblieben, wenn er in seinen bisherigen Gemeindebauprojekten auf Mitarbeiter gesetzt hätte, die sich durch Schwachheit und Erfolglosigkeit auszeichneten? Dann hätte er vor fünf Jahren, auf dem bisherigen Höhepunkt seiner Karriere, wohl kaum dieselbe Anerkennung erhalten, als er in jenem bedeutenden christlichen Magazin sein damaliges Projekt vorstellen durfte! Ein Philosoph in seinem Studierzimmer kann sich solche Äusserungen wohl erlauben, doch ein pragmatischer Praktiker auf dem Feld braucht doch Werkzeuge und Strategien, die den Erfolg nicht bloss verheissen, sondern auch garantieren…

Und doch muss er nun, währenddem er sich an der frischen Luft die Füsse vertritt, noch einmal der Darstellung Bubers nachdenken…

(ab hier die Fortsetzung des Magazins)

Natürlich argumentierte dieser vom Alten Testament her, natürlich hatten auch Mose und David ihre Schattenseiten – die hat ja jeder Mensch – aber waren sie nicht äusserst erfolgreich in der Ausführung ihres Auftrags? Aber andererseits wird David tatsächlich gerahmt von zwei Persönlichkeiten, die ihn zwar äusserlich zu überragen vermochten, aber schlussendlich kolossal scheiterten… und die Beobachtung mit der Textmenge, die für die beiden Fluchtgeschichten verwendet wird, im Kontrast zu den Erfolgen Davids, die muss er gleich heute Abend überprüfen! Dass die morgendliche Lektüre einen solchen inneren Widerstand in ihm provoziert hat, ist zumindest ein klarer Hinweis darauf, dass er sich schon recht gut regeneriert hat – schliesslich gehört er zu der Sorte Mensch, die nicht so leicht unterzukriegen ist.

Das Motiv

Der gestrige Abend ist später geworden, als er es sich vorgenommen hatte… doch hatte er danach herrlich tief geschlafen! Er musste sich am Morgen zwar eingestehen, dass die gute Schlafqualität nicht von der Bibellektüre herrührte, denn diese verärgerte ihn mehr als ihm lieb war und liess ihn gegenüber dem Argument Bubers etwas ratlos zurück… dafür stiess er (durch eine göttliche Fügung?) auf ein anderes Buch, dessen Lektüre seinen Geist noch viel stärker anzuregen vermochte als dasjenige von Buber. Schon erstaunlich, was diese Klosterbibliothek für deutschsprachige Perlen inmitten der kyrillischen Bleiwüste bereithielt – extra für ihn? Das Buch schien jedenfalls schon Jahrzehnte an demselben Platz zu stehen… doch tat dies seiner Faszination für die «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» eines gewissen Jacob Burckhardt keinerlei Abbruch, so dass er diese bis weit in die Nacht hinein studierte. Besonders anregend war Burckhardts Versuch, historische Grösse zu definieren – in diesen Überlegungen fand er sich als bedeutende Leitungspersönlichkeit schnell zurecht. Je später der Abend wurde, desto mehr reizte es ihn, diese Kriterien auf sich selbst anzuwenden, um zu schauen, ob seine eigene Grösse etwa bereits als historisch bezeichnet werden könnte – ein durchaus reizvoller Gedanke! Doch als er die im Text beschriebenen Kriterien noch einmal bündeln und auswerten wollte, legte sich plötzlich ein schwerer, undurchdringbarer, weisser Nebel auf sein Denkvermögen und verunmöglichte es ihm, auch nur noch einen klaren Gedanken zu fassen… eine Erinnerung daran, sich noch zu schonen und nicht schon wieder über seine Kräfte hinaus zu arbeiten! So ging er schlafen – seine Studien konnte er ja am nächsten Tag weiterführen…

Doch heute Morgen, als er sich mit klarem Kopf noch einmal dem Text Burckhardts zuwandte, landete er bald auf dem harten Boden der eigenen Durchschnittlichkeit. Wenn er so einzigartig und unersetzlich gewesen wäre, hätte es mit seinem Erfolgsprojekt nach seinem Weggang ja abwärts gehen müssen… und der gesellschaftliche Einfluss, für den er alles gegeben hatte, war nicht einmal in seiner Stadt derart, dass von einem dauerhaften historischen Fortschritt hätte gesprochen werden können. Klar, einige Dinge in der Stadt konnten zum Guten verändert werden, aber dieser Wandel betraf höchstens einige Wenige, aber sicher nicht alle Einwohner. Tja, und die abnorme, maximale, ja im Prinzip übermenschliche Willenskraft und Seelenstärke, die Burckhardt von einer grossen Person forderte, war ja bei ihm auch nicht so stark ausgeprägt, dass er die Spannungen in seiner jetzigen Gemeinde hätte aushalten können, sondern sich in dem Moment, als alles zusammenbrach, aufgemacht hat, diesen verflixten Berg zu besteigen… wenn er doch nur erfolgreich zurückgekehrt wäre, als strahlender Bezwinger dieses Ungetüms und nicht als von ihm geschlagener Hund, dann… ja dann könnte er sich auch vor seiner Frau rechtfertigen, warum er sie für diese drei Wochen allein gelassen hat mit ihren Kindern! Aber jetzt, was wird sie wohl sagen, wenn er nach mehr als einem Monat erst zurückkehren wird… wird sie sich überhaupt freuen, nachdem sie ihn wutentbrannt hinausgejagt hatte, als er ihr von der Expedition erzählt hatte? Oder wäre es ihr sogar egal, wenn er gar nicht mehr zurückkehrte?

Und sein Gemeindeleiter? Was würde der sagen, wenn er erst viel später als abgemacht wieder auftaucht? Rechnet dieser überhaupt noch mit ihm oder ist er, der nun sicherlich als vermisst gilt, bereits durch einen jüngeren, dynamischeren, charismatischeren Pastor ersetzt worden?

Er versucht, diese beunruhigenden Gedanken zu verscheuchen, doch plötzlich durchfährt es ihn wie ein Blitz – was, wenn ihn zuhause nun alle für tot halten würden? Wie würden sie von ihm reden, was würden sie von ihm in Erinnerung behalten, welche seiner Leistungen würden bei Gedenkreden gewürdigt werden? Würde er tatsächlich als bedeutende Leitungspersönlichkeit anerkannt werden oder würde sich das Urteil seiner Zeitgenossen Burckhardts Verdikt der Durchschnittlichkeit anschliessen? Durchschnittlichkeit… wie er diesen Begriff verabscheut, fast noch mehr als die Erfolglosigkeit!

In diese düsteren Gedanken versunken, bemerkt er zuerst gar nicht, dass während seines Spaziergangs Nebel aufgezogen ist, der die Farbenpracht der Blumenwiesen, die er wie jeden Tag durchstreift, zu einem grauen Einheitsbrei macht… doch plötzlich durchzuckt es ihn ein zweites Mal, und wie wenn ein kräftiger Sonnenstrahl durch den Nebel gedrungen wäre, steht plötzlich in aller Klarheit das Motiv seines inneren Antriebs vor ihm: die Anerkennung durch den Erfolg! Hatte nicht Burckhardt auch von diesem Kriterium geschrieben, so dass er wenigstens diesen einen Aspekt menschlicher Grösse voll erfüllt? Doch wenn es ihm nur um die Anerkennung bei den Menschen ging, was hatten denn alle seine Erfolge für eine Bedeutung für die Ewigkeit? Sagte nicht Jesus, dass diejenigen, die nach Anerkennung bei den Menschen streben, ihren Lohn bereits bekommen haben? Wie würde dann Gott seine bisherige Lebensleistung beurteilen? Plötzlich beginnt er zu ahnen, dass Bubers Beobachtung der Erfolglosigkeit biblischer Führer einer tiefen Lebensweisheit entsprang… es musste so sein, genau wie auch das Kreuz im Leben Jesu! Buber blieb ja auch nicht im Alten Testament stehen, sondern zog die Linie aus über den leidenden Gottesknecht bis hin zu Jesu Leben und Sterben. Ja, in seinem Leiden überwand Jesus auch den Gang der «Weltgeschichte», die die Geschichte der Erfolge ist! Die menschliche Grösse, wie sie ein Jacob Burckhardt für den modernen Menschen zu definieren versuchte, ist überwunden! Doch selbst er als Pastor war jahrelang viel mehr von Burckhardts Vorstellungen bezüglich menschlicher Grösse und Führungsqualitäten geprägt denn von Jesu Vorbild…

Fast unmerklich werden mit diesen Gedanken seine Schritte leichter, beschwingter, und er beginnt freier zu atmen. Ganz erstaunt bemerkt er auch, dass sich der Nebel durch die kräftigen Strahlen der Frühlingssonne mehr und mehr auflöst… beschwingt und mit einem Pfeifen auf den Lippen kehrt er ins Kloster zurück.

Die Umkehr

Er kann sich kaum daran erinnern, dass er sich jemals so frei und unbeschwert wie gestern gefühlt hatte. Diese plötzliche Erkenntnis, dass im Leben und Werk Jesu das Streben nach Erfolg überwunden ist, hatte eine erstaunlich nachhaltige Wirkung auf seinen inneren Gemütszustand. «Die Bibel kennt diesen Eigenwert des Erfolgs nicht» – diesen Satz hatte er sich heute morgen herausgeschrieben, als er Bubers Aufsatz noch einmal las. Mit jedem Mal, da er den Satz wiederholt, atmet er grössere Freiheit… doch wenn nicht mehr länger der Erfolg seine Identität definiert, was dann? Verwundert stellt er fest, dass er keine Antwort auf diese Frage hat, so dass er entschliesst, sie mit auf seinen Spaziergang zu nehmen. Wer bin ich? Wie würde seine Frau diese Frage beantworten? Das will er sich aktuell lieber nicht ausmalen… darum besser: Wie hätte sie sie damals beantwortet, als sie frisch verheiratet und voller gemeinsamer Zukunftsträume waren? Und was würden seine Kinder sagen? Hoffentlich nicht einfach «der Abwesende»… Ja, wer ist er eigentlich? Wie er über dieser Frage seinen Blick über die sanft gewellten Hügel und scharfkantig darüber aufragenden Berge schweifen lässt, schwebt plötzlich eine Gedichtzeile durch sein Gedächtnis:

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Ist sie von Bonhoeffer? Das ist für ihn grad ziemlich unerheblich, denn in diesem Moment spürt er plötzlich und zugleich zwei völlig konträre Realitäten in einer noch nie dagewesenen Intensität: einerseits die völlige Entfremdung von sich selbst und von Gott, andererseits eine so tief wie noch nie empfundene Geborgenheit bei genau diesem Gott, der doch sein Schöpfer und Vater ist… und da wird ihm klar, dass genau jetzt der Moment gekommen ist, sich diesem Vater vorbehaltlos in die Arme zu werfen.

Ruhe

Wie gewaltig ist doch die Seelenruhe der Selbstvergessenheit! Eine innere Ruhe, die ihm bisher noch völlig unbekannt gewesen ist, hat sich seit gestern in seiner Seele ausgebreitet. Eine Ruhe, die aus der Freiheit kommt, die Frage nach der eigenen Identität nicht selbst beantworten zu müssen, sondern Gott überlassen zu dürfen. Eine Ruhe, die aus der Freiheit kommt, Anerkennung nicht mehr länger im Erfolg zu suchen, sondern diese von Gott zugesprochen zu bekommen: «Siehe, du bist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.» – gestern hat dieser Zuspruch Gottes sich einen Weg in sein Herz gebahnt. Und seither hat sich Ruhe in ihm ausgebreitet. All die Fragen über seine bisherige Lebensleistung und wie diese bewertet werden würde – irrelevant gegenüber diesem Gnadenzuspruch Gottes! Auch die Angst bezüglich des eigenen Versagens, vor der Durchschnittlichkeit und Erfolglosigkeit beginnt sich mehr und mehr zu lösen, seit seine Gedanken nicht mehr ständig um ihn selbst kreisen. Und plötzlich verspürt er auch innerlich weiten Raum und beginnt zu erfassen, dass Selbstvergessenheit frei macht, nicht mehr sich selbst, sondern anderen zu dienen. Noch nie hat er einen blossen Spaziergang so genossen wie heute… und wie er ins Kloster zurückkehrt, schaut ihn Bruder Michael mit einem zugleich gütigen wie auch durchdringenden Blick kurz an, nur um diesen sogleich wieder über die gewaltigen Bergketten schweifen zu lassen. Dann, nach ein paar Sekunden Schweigen, nickt er bedächtig und meint in seinem einfachen Deutsch: «Nun ist auch deine Seele vom Berg heruntergekommen. Ich bestelle ein Taxi für morgen.»

Aufbruch

Nun bleiben ihm nur noch wenige Stunden an diesem Ort der Ruhe, an dem er nach seinem Absturz wieder heil geworden ist. Seine Expedition hat eine überraschende Wende genommen, die in ihm zu einer tiefgreifenden Neuausrichtung geführt hat – ist es zu hoch gegriffen, von einem reformatorischen Durchbruch zu sprechen?

Auf jeden Fall wird sein Leitungsverständnis nicht mehr dasselbe sein wie zuvor. Das hat er sich felsenfest vorgenommen. Von den Anerkennungs- und Ruhmesverheissungen des Erfolgs wird er sich nicht mehr antreiben lassen. Doch auf was wird er sich dann ausrichten? Was wird sein Leitstern sein? Die Orientierung muss aus dem Zwiegespräch Gottes mit der Welt gewonnen werden! Fähig zu führen wird derjenige, der diesem Zwiegespräch standhält. Dieses Standhalten beinhaltet auch das Aushalten, dass der Führende selbst ein Geführter ist. Das war er ja bisher auch schon, zwar unbewusst, aber nun sieht er es klar und eindeutig, dass es die Anerkennung der Anderen war, die ihn leitete… seine Autonomie, auf die er so viel hielt, hat sich als Illusion entpuppt! Und so kann er sich grad so gut der Führung Gottes anvertrauen. Dies beinhaltet aber auch die Akzeptanz, dass Gott auch durch die Tiefen der Erfolglosigkeit führt. Diese Spannung ist auszuhalten und stellt die Aufgabe, gerade darin sich selbst zu überwinden und weiterhin den Mitmenschen zu dienen! Ob er diese Aufgabe meistern wird, vermag er noch nicht zu sagen, aber auf jeden Fall möchte er sich ihr stellen. Dies heisst nun konkret, dass er zuerst zu seiner Frau zurückkehren muss und zu seiner Familie, um sich in ihren Dienst zu stellen – ob ihm die Versöhnung gelingen wird? Dazu braucht er unbedingt den Segen Gottes, um nicht erneut zu scheitern! Doch dieser ist nicht einfach verfügbar, machbar… sondern muss in ebendieser Zwiesprache mit Gott je und je erbittet werden. Ob er dann noch für einen Gemeindedienst zu gebrauchen ist? Gott wird es weisen… aber den Segen, den er diese Tage von Gott erfahren hat, den möchte er weitergeben. Ob es im Grossen oder Kleinen sein wird, das ist ja nicht mehr entscheidend. Nur, dass er zu einem Segensträger Gottes wird – genau, nicht mehr von seinen Erfolgen sollen die Leute einmal sprechen, sondern vom Segen, den sie durch ihn erfahren haben.