Urs Argenton
Als junger Mann wanderte ich oft auf unterschiedlichen Routen auf unseren Hausberg, den Farnsberg im Oberbaselbiet. Immer wieder bestieg ich die Burgruine, um meinen Blick in die Weite schweifen zu lassen. Bei guter Sicht sah ich im Süden schneebedeckte Berge, im Norden den Schwarzwald, im Westen Basel und das Elsass und im Osten Teile des Kantons Aargau. Mein damaliger Wohnort Ormalingen liegt im Ergolztal. Schon bald war mir der Horizont im Tal zu eng. Meine Sehnsucht, die Welt zu entdecken, war sehr gross.
Neugierig den Horizont erweitern
Schon als Kind interessierten mich die Weltgeschichte und ganz besonders die Menschen. Ich hörte gerne den Gesprächen und Erzählungen erwachsener Menschen zu. Mit 16 Jahren unternahm ich mit zwei Kollegen meine erste grosse Velotour. Wir fuhren vierzehn Tage durch Süddeutschland. Das war für uns Neuland. 15 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs war in der Erwachsenenwelt Deutschland immer noch kein sehr vertrauenswürdiger Nachbar. Ich spürte auch in meinem Umfeld Misstrauen. Darum wollten wir unsere «Nachbarschaft» mit jugendlicher Neugierde ein wenig besser kennenlernen.
Horizonterweiterung war für mich damals und ist auch heute noch ein wichtiges Thema. Die persönliche Entwicklung nimmt mit einem engen Horizont einen anderen Verlauf als ein Leben mit einem geweiteten Blick. Allerdings ist es wesentlich, woran sich eine Horizonterweiterung orientiert !
Die persönliche Entwicklung nimmt mit einem engen Horizont einen anderen Verlauf als ein Leben mit einem geweiteten Blick.
Es waren viele Fragen, die mich in jungen Jahren bewegten. Zum Beispiel : Wie viele Jahre habe ich laut Statistik noch zu leben ? Was will ich mit meinem Leben erreichen ? Warum starb die Mutter meines Klassenkameraden so früh ? Wieso bekriegen sich die Menschen, und warum wird so viel Elend produziert ? Was kann ich dazu beitragen, dass die Welt besser wird ? Wieso gibt es so grosse gesellschaftliche Unterschiede zwischen Arm und Reich ? Warum kann man nicht jedem Menschen vertrauen ?
Horizonterweiterung nach oben
Durch Gottes unfassbare Güte durfte ich mit vierundzwanzig Jahren eine ganz neue Dimension des Lebens kennenlernen : Jesus Christus wurde Freund und Herr in meinem Leben. Ja, Jesus lebt ! Er lebt durch Seinen Heiligen Geist in meinem Herzen. In kleinen Schritten öffnete sich mein Lebensvorhang unter anderem durch das Studieren der Bibel und das Lesen wegweisender Bücher. Ich bekam Einblicke in die unfassbare Grösse Gottes. Mir wurde klar : Die göttlichen Gedanken sind meilenweit von unserer menschlichen Wahrnehmung entfernt. Im Lauf der Jahre wurde mir immer mehr bewusst, dass Gott keine engherzige, kleinliche, Leben abwürgende, langweilige Person ist. Der Glaube gestaltet das Leben nicht Grau in Grau, sondern farbig ! Gott selbst ist das wahre Leben. In Ihm finden wir den erstrebenswerten, herrlichen, kreativen Lebenshorizont. Wahres Leben beginnt nicht erst in der Ewigkeit. Es findet bereits hier und jetzt statt.
Die göttlichen Gedanken sind meilenweit von unserer menschlichen Wahrnehmung entfernt.
Was bedeutet es, im Horizont der Ewigkeit zu leben ? Diese Frage beschäftigt mich immer wieder. Bedeutet es, abgehoben vom gewöhnlichen Leben schon jetzt in himmlischen Sphären zu schweben ? Soll man als Christ den weltlichen Menschen zwar missionarisch begegnen, mit ihnen sonst so wenig wie möglich zu tun haben, oder sind wir herausgefordert, so nahe wie möglich mit dieser Welt verbunden zu sein ?
Im Horizont der Ewigkeit leben
Dietrich Bonhoeffer hat es so verstanden : «Das Bibelwort ruft uns auf : Ihr wollt die Ewigkeit finden, so dienet der Zeit. Wie ein ungeheurer Widerspruch muss uns dies Wort anmuten : willst du Unvergängliches, so halte dich an Vergängliches, willst du Ewiges, so halte dich an Zeitliches, willst du Gott, so halte dich an die Welt.» (Quelle : Barcelona, Berlin, Amerika 1928–1931, DBW Band 10, Seite 512 f ; vgl. auch die Biografie : Wolfgang Huber : Dietrich Bonhoeffer – Auf dem Weg zur Freiheit. Ein Porträt. C. H. Beck 2020)
«Willst du Unvergängliches, so halte dich an Vergängliches, willst du Ewiges, so halte dich an Zeitliches, willst du Gott, so halte dich an die Welt.» (Dietrich Bonhoeffer)
Im Horizont der Ewigkeit leben bedeutet aus meiner Sicht : Die Welt ist immer Gottes Welt – auch wenn sie ein sehr verzerrtes Bild des Göttlichen widerspiegelt. Alle Menschen sind Geschöpfe Gottes, auch wenn sie und wir verkehrte Wege gegangen sind oder gehen. Gott will uns Menschen zu sich zurückholen und uns das wirkliche Leben schenken.
Als Christen sind wir bereits jetzt durch den Glauben, durch die Erlösung von Jesus Christus mit der himmlischen Welt verbunden. Wir sehen die Herrlichkeit, die auf uns wartet, noch nicht, dürfen aber erwartungsvoll auf sie zugehen.
Gott nimmt uns durch die Umkehr zu Ihm bewusst nicht sofort zu sich in die himmlische Welt, sondern lässt uns mitten in dieser sündigen Welt weiterleben. In Epheser 5,2 beschreibt Paulus unsere Bestimmung für das Hier und Jetzt : «Alles, was ihr tut, soll von der Liebe bestimmt sein. Denn auch Christus hat uns Seine Liebe erwiesen und hat Sein Leben für uns hingegeben wie eine Opfergabe, deren Duft vom Altar zu Gott aufsteigt und an der Er Freude hat.»
Auf Gott ausgerichtet leben
Gott denkt immer umfassend. Darum soll auch unser Lebenshorizont durch den Glauben nicht verengter, sondern umfassender und mit der Herrlichkeit Gottes und Seiner Schöpfung verschönert werden.
Unser Lebenshorizont soll durch den Glauben nicht verengter, sondern umfassender werden.
Wir dürfen mit einem wunderbaren Gott leben. Er freut sich, wenn wir über Ihn staunen, Ihn anbeten, aber auch erfinderischer und kreativer werden. Nicht ein überspitzter Individualismus, sondern die liebevolle Hinwendung zu unseren Nächsten soll unser Leben mehr und mehr bestimmen. Übrigens sehe ich die Menschen nicht primär als «gläubig» oder «ungläubig», sondern als Geschöpfe Gottes, die durch Jesus Christus in ihre Bestimmung finden sollen.
Paulus zeigt auf, was es bedeutet, im Horizont der Ewigkeit zu leben : «Richtet euch nicht länger nach den Massstäben dieser Welt, sondern lernt, in einer neuen Weise zu denken, damit ihr verändert werdet und beurteilen könnt, ob etwas Gottes Wille ist – ob es gut ist, ob Gott Freude daran hat und ob es vollkommen ist» (Römer 12,2).