Wann immer es Wechsel in einem Leitungsgremium gibt, führt dies unweigerlich zur Frage, wozu eine Organisation existiert oder anders formuliert, was die Vision und Mission einer Organisation ausmacht.
Was ich in den nächsten Minuten mit euch teilen möchte ist kein neues Leitbild für die FEG Schweiz und auch kein wissenschaftlicher Vortrag über Kirche mit Mission, es ist vielmehr ein kleiner Einblick in mein Herz, in das was mich bezüglich der Umsetzung unseres Leitbilds bewegt.
Ich habe den Vortrag unter den Titel «Kirche mit Mission – tiefer verwurzelt, weiter wachsen» gestellt. An den Anfang stelle ich ein Bibelwort aus Röm 1,5.
«Durch ihn (Jesus Christus) haben wir empfangen Gnade und Apostelamt, in seinem Namen den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden.» Römer 1,5
1. Kirche mit Mission
Man könnte auch übersetzen: «Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Sendung, in seinem Namen den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden.» Denn das griechische Wort, das Luther mit Apostelamt übersetzt beschreibt grundsätzlich das Gesandtsein bzw. einen Sendungsauftrag oder wie wir heute sagen würden eine Mission. In diesem Sinn könnte man diese Aussage auch wie folgt in unsere Sprache übertragen: Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Mission.
1.1 Empfangen – Gnade und Mission sind Geschenke
Drei Aussagen leuchten mir in diesem Satz hell entgegen:
1. Jesus bringt uns in seinem Erlösungswerk ein doppeltes Geschenk entgegen:
- Gnade und Mission, oder anders formuliert: das Geschenk unverdienter Annahme und das Privileg in seinem Auftrag zu stehen und in seinem Namen zu handeln
- Es ist nicht so, dass Gott uns begnadigt, um uns dann unter die Forderung der Mission zu stellen.
- Es ist vielmehr so, dass er uns begnadigt und damit das Vorrecht gibt, Teil seiner Mission, der «Missio Dei» zu werden.
2. Diese beiden Geschenke sind unzertrennlich miteinander verbunden.
- Gnade und Sendung können nie ohne Schaden voneinander getrennt werden
- Wer begnadigt wurde ist gesandt und wer gesandt ist kann seine Sendung wiederum nur durch Gnade erfüllen.
- Wer begnadigt wurde ist gesandt und wer gesandt ist kann seine Sendung wiederum nur durch Gnade erfüllen.
- Gemeinde im Sinne von Jesus ist deshalb immer Kirche mit Mission
3. Jesus Christus ist der Ursprung, das Mittel und das Ziel unserer Mission
- durch IHN haben wir empfangen
- Gemeint ist der historische Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes. Der Jesus, den uns die Heilige Schrift zeigt und der Jesus der durch dessen Werk der heilige Geist in den Glaubenden wohnt.
- in seinem Namen, das heisst durch ihn und seine Kraft, handeln wir
- auf ihn ist unser Dienst ausgerichtet. Das führt uns zum nächsten Gedanken, denn der Satz geht ja noch weiter:
«Durch ihn (Jesus Christus) haben wir empfangen Gnade und Mission, in seinem Namen den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Völkern“ Römer 1,5
1.2 Das Ziel unserer Mission besteht darin, den Gehorsam des Glaubens aufzurichten
In Römer 12,1 beschreibt Paulus diesen Gehorsam als Hingabe an Gott und als den logischen Gottesdienst, sprich die logische Reaktion auf die Barmherzigkeit Gottes. Was Paulus hier als Ziel seines Apostelamtes formuliert, das gilt für die Mission der Gemeinde Jesu schlechthin. Wir sind berufen, den Gehorsam des Glaubens unter allen Nationen aufzurichten, das beginnt in unserem eigenen Leben
Vielen Menschen geht der Laden runter, wenn sie den Begriff Gehorsam hören. Manche haben traumatische Erfahrungen mit Machtmissbrauch und erzwungenem Gehorsam in ihrer Kindheit, in der Schule, im Militär oder sonst irgendwo. Sie haben erlebt, wie Autoritätspersonen die Maxime verfolgten, ihren Schützlingen den eigenen Willen zu brechen und sie mittels Drohungen, Gewalt oder Manipulation gefügig zu machen.
Für andere impliziert Gehorsam eine asymmetrische Beziehung und das geht uns in einer egalitären und antiautoritären Kultur massiv gegen den Strich.
Zur Botschaft des Evangeliums gehört jedoch auch dieser Anspruch: Jesus Christus ist Herr!
Unsere Beziehung zu Gott ist eine asymmetrische Beziehung und wird es immer bleiben. Er ist uns in jeder Hinsicht unendlich überlegen, sei es in Macht, Kraft, Weisheit, Liebe, Barmherzigkeit etc. und doch ist er uns als Mensch so nahe gekommen wie nur möglich. Das bedeutet, wenn Gott uns seinen Willen kundtut, dann unterbreitet er uns nicht ein Verhandlungsangebot, sondern ein Gebot. Und auf ein Gebot kann man immer nur mit Gehorsam oder Ungehorsam reagieren.
Die andere Wahrheit ist, dass Gott kein Gewalttäter ist, der Gehorsam erzwingt. Die Mission der Gemeinde Jesu besteht nicht darin, die Menschheit dem Gehorsam gegenüber Gottes Geboten zu unterwerfen. Das wurde leider teilweise in der Kirchengeschichte missverstanden und es kursieren bis heute noch christentümliche Machtphantasien durch die Köpfe.
Der Gehorsam des Glaubens ist jedoch etwas ganz anderes. Er beschreibt die freiwillige Hingabe und Unterordnung unter Gott und seinen Willen als logische Reaktion auf die Offenbarung und Erfahrung der Güte und Barmherzigkeit Gottes in Jesus Christus.
Das hat zur Konsequenz: Die Mission der Gemeinde besteht zuerst darin, den Menschen die die gute Nachricht von der Barmherzigkeit und Liebe Gottes zu vermitteln, bevor aus dieser der Gehorsam des Glaubens wachsen kann. Und zwar die Barmherzigkeit und Güte Gottes, die sich in Jesus Christus, dem Mensch gewordenen Gott, dem an unserer Stelle Gekreuzigten und den von den Toten Auferstandenen, offenbart hat.
Unser zentraler Auftrag besteht nicht darin, unserer Gesellschaft christliche Werte aufzuoktroyieren, sondern darin Menschen mit Jesus Christus in Verbindung zu bringen und sie mit allem was sie sind und haben an Jesus Christus zu binden. In diesem Sinn ist der Gehorsam des Glaubens zuerst einmal ein Gehorsam der uns geschenkt wird, bevor er zum Anspruch wird. Denn wir erreichen den vollkommenen Gehorsam vor Gott durch Zurechnung des vollkommen gehorsamen Lebens von Jesus Christus.
Die Aufrichtung des Gehorsams des Glaubens hat also zwei Dimensionen. Die eine Dimension ist das Hineingetauchtwerden in den Gehorsam des Christus, der uns unverdienterweise aus Gnade durch den Glauben zugerechnet wird. Im Glauben an Christus hat jeder der an Jesus glaubt de jure vor Gott bereits das Ziel des vollkommenen Gehorsams erreicht.
Die andere Seite ist, dass wir uns selbst durch den Gehorsam des Glaubens dem Willen Gottes hingeben und tun was gut, wohlgefällig und vollkommen vor Gott ist. De facto sind wir noch nicht am Ziel, sondern jeden Tag herausgefordert, Gehorsam zu lernen.
Für unsere Mission bedeutet das ein doppeltes Mandat. Wir sind erstens herausgefordert, Menschen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln die Gnade und Barmherzigkeit Gottes vor Augen zu malen, um sie mit Jesus Christus zu verbinden. Und zweitens sind wir herausgefordert, sie zu lehren wie sie ihr Leben nun in logischer Konsequenz auf die Barmherzigkeit Gottes, d.h. im Gehorsam gegenüber Jesus Christus, gestalten können.
Das führt mich zum zweiten Hauptgedanken:
2. Tiefer verwurzelt
Der Auftrag, den Gehorsam des Glaubens unter allen Nationen aufzurichten stellt uns vor grosse Herausforderungen. Inmitten dieser Mission brechen fortlaufend kulturelle, theologische, ethische und andere Fragestellungen auf.
Das liegt geradezu im Wesen der Mission. Der Missionswissenschaftler Martin Kähler bezeichnete die Mission einst als «die Mutter der Theologie»1. Wo immer das Evangelium kulturelle Grenzen überschreitet steht es vor der Herausforderung der Kontextualisierung. Die Kontextualisierung des Evangeliums ist keine neue aber eine der grossen Herausforderungen in die wir in einem nachchristentümlichen Europa hineingestellt sind.
Dabei stehen wir in der Gefahr einer destruktiven Polarisierung zwischen zwei falschen Alternativen auf den Leim zu gehen. Die grosse Frage, die viele Christen seit Jahren bewegt ist die Frage nach links oder rechts, Progressivismus oder Konservatismus, Postevangelikalismus oder Rechtsevangelikalismus, Relativismus oder Gesetzlichkeit, Liberalismus oder Fundamentalismus etc.
Mir begegnen diese Fragen und Gedanken auch in Freien Evangelischen Gemeinden. In welche Richtung willst du die FEG Schweiz führen? Nach links oder nach rechts?
Falsche Antworten ergeben sich oft aus falschen Alternativen. Genau so geht es mir bei dieser Frage: Mir fehlt die entscheidende Option! Denn in der Regel haben wir sowohl links als auch rechts Zerrbilder des Evangeliums. Die Alternativen liberal oder fundamentalistisch sind völlig ungenügend. Es sind für mich falsche Alternativen, da halte ich es mit Roland Hardmeier, der kürzlich schrieb:
«Die Kirche kann ihre Zukunft fundamentalistisch oder progressiv verspielen. Beide Formen bieten ein verfremdetes Evangelium an».
Und Tim Keller zitiert den Kirchenvater Tertullian mit den Worten: «So wie Jesus zwischen zwei Verbrechern gekreuzigt wurde, wird das Evangelium auf ewig zwischen zwei Irrtümern gekreuzigt»3. Er nennt den ersten Feind die Gesetzlichkeit und den zweiten den Relativismus. Man kann eine Reihe anderer Begriffe dafür verwenden, im Kern bleiben es immer dieselben Feinde.
Wenn wir vor falsche Alternativen gestellt werden, dann können wir nur falsch wählen. Oder aber wir zeigen eine dritte Option auf. Ich schlage vor, dass wir uns von den Alternativen links oder rechts verabschieden und uns darauf konzentrieren, tiefer zu gehen. Ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gehört das Evangelium von Jesus Christus, die Botschaft von dem was Jesus Christus für uns getan hat. Er ist unsere zentrale Wahrheit.
Wenn wir die Herausforderungen unserer Mission in dieser Welt meistern wollen, dann brauchen wir vor allem eines: eine tiefere Verwurzelung in diesem Evangelium und durch das Evangelium in einer realen Beziehung mit Jesus Christus auf der Grundlage seiner Liebe!
Genau dafür betet Paulus in Epheser 3,17-21, (NGÜ):
Es ist mein Gebet, dass Christus aufgrund des Glaubens in euren Herzen wohnt und dass euer Leben in der Liebe verwurzelt und auf das Fundament der Liebe gegründet ist. Das wird euch dazu befähigen, zusammen mit allen anderen, die zu Gottes heiligem Volk gehören, die Liebe Christi in allen ihren Dimensionen zu erfassen – in ihrer Breite, in ihrer Länge, in ihrer Höhe und in ihrer Tiefe. Ja, ich bete darum, dass ihr seine Liebe versteht, die doch weit über alles Verstehen hinausreicht, und dass ihr auf diese Weise mehr und mehr mit der ganzen Fülle des Lebens erfüllt werdet, das bei Gott zu finden ist. Ihm, der mit seiner unerschöpflichen Kraft in uns am Werk ist und unendlich viel mehr zu tun vermag, als wir erbitten oder begreifen können, ihm gebührt durch Jesus Christus die Ehre in der Gemeinde von Generation zu Generation und für immer und ewig. Amen.
Vier Gedanken will aus diesem Versen hervorheben:
- Das Fundament unseres Glaubens ist Jesus Christus und seine Liebe zu uns
- In ihm und seiner Liebe müssen wir tiefer verwurzelt werden
- Die persönliche Verankerung in der Liebe Christi wird uns befähigen, gemeinsam die Breite, Länge, Höhe und Tiefe der Liebe Gottes zu erfassen.
- Auf diese Weise werden wir mehr und mehr mit der ganzen Fülle des Lebens erfüllt werden.
Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Die Fülle des Lebens sprudelt aus der persönlichen und gemeinsamen Erkenntnis der Liebe Christi, die das zentrale Motiv des Evangeliums darstellt.
Diese Agape-Liebe ist für mich das erstaunlichste Phänomen das überhaupt existiert. Sie ist so radikal, dass sie nie billig sein kann. Sie kostet Jesus Christus die vollkommene Hingabe für die Welt und sie kann nur auf eine Weise logisch beantwortet werden, und zwar mit vollkommener Hingabe des Menschen an Gott, sprich den Gehorsam des Glaubens.
Anders Nygren ein schwedischer lutherischer Theologe hat sich vor 100 Jahren intensiv auf theologisch philosophischer Ebene mit dem Wesen der Agape-Liebe auseinandergesetzt und das Agape-Konzept des Evangeliums dem Eros-Konzept bzw. Selbsterlösungskonzept in der griechischen Philosophie gegenüber gestellt. Dabei arbeitet Nygren vier zentrale Eigenschaften der Agape-Liebe Gottes heraus:
- Agapé-Liebe ist spontan und unmotiviert: Spontan bedeutet aus einem inneren Antrieb heraus, nicht als Reaktion auf einen äusseren Anlass. Unmotiviert bedeutet "grundlos", d.h. dass die Liebe durch nichts ausserhalb von Gott motiviert wird, sie sucht nichts im Gegenüber, was sie für sich selbst bräuchte. Agapé-Liebe ist allein begründet im Subjekt, im Liebenden, in Gott selbst. Die Liebe, die Gott gibt, ist sozusagen ein Output oder das Übersprudeln seines Wesens. Er liebt, weil er Liebe ist.
- Agape-Liebe ist wertindifferent: Diese Eigenschaft beruht auf der vorherigen, präzisiert sie jedoch in dem Sinne, dass Gott nicht liebt, weil er im Objekt seiner Liebe einen Wert findet. Deshalb kann Gott auch den Sünder lieben an dem so gar nichts liebenswertes ist. Ganz im Gegenteil. Gleichzeitig liebt Gott den Gerechten nicht wegen seiner Gerechtigkeit, sondern wegen seiner Liebe. Nygren schreibt: «Erst wenn jeder Gedanke an den Wert des Gegenstandes ausgemerzt wird, weiss man, was Agape-Liebe ist». Paulus führt diesen Gedanken der Wertindifferenz in Römer 5,10 in schwindelerregende Höhe, wenn er schreibt: «Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind.» Das ist der Höhepunkt der Wertindifferenz der Liebe Gottes: Er liebte uns als wir noch Feinde waren. Derselbe Vers führt uns direkt zur dritten Eigenschaft der Agape-Liebe Gottes. Denn Paulus argumentiert in diesem Vers so, als ob uns die Zuwendung der Liebe Gottes einen neuen Wert verliehen habe. Und genau so ist es.
- Agape ist schöpferisch: Durch die Liebe Gottes findet eine Neuschöpfung statt. Was an sich keinen Wert haben muss, erhält Wert gerade dadurch, dass es Gegenstand der göttlichen Liebe wird. Agape ist ein wertschaffendes Prinzip. Durch sie findet eine Umkehrung statt. Nicht weil ich Wert bringe, werde ich geliebt, sondern weil ich geliebt werde bin ich wertvoll. Seinen höchsten Ausdruck findet diese schöpferische Liebe in der Vergebung. In der Vergebung wird aus dem Mangel, aus dem Nicht-Genügen, etwas neues geschaffen. Das Alte ist Vergangen, siehe Neues ist geworden schreibt der Apostel Paulus. Und was ist dieses Neue? Eine versöhnte Beziehung, was direkt zum 4. Aspekt führt.
- Agape ist gemeinschaftsstiftend (in Rapperswil muss man jetzt natürlich sagen: beziehungsstiftend): Agape-Liebe ist nicht der Weg des Menschen zu Gott, sondern der Weg Gottes zu den Menschen. Die Agapé-Liebe wartet nicht, bis der andere kommt, sondern macht sich auf, um dem anderen Vergebung entgegenzubringen und Beziehung wiederherzustellen. Das ist die radikale Liebe, die Gott uns in Jesus Christus entgegengebracht hat. Diese Liebe soll unser persönliches Denken und Handeln prägen, d.h. unsere Gesinnung radikal verändern. Diese Liebe soll unser gemeinschaftliches Leben als Gemeinden prägen. Diese Liebe ist das von Gott verordnete Alleinstellungsmerkmal jeder christlichen Gemeinde: «Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Agape-Liebe untereinander habt» (Johannes 13,35). In dem zitierten Ephesertext spricht Paulus von der Länge, Breite, Höhe und Tiefe der Liebe Gottes, die wir erkennen sollen. Ich habe mir das mal ungefähr so vorgestellt. Wenn wir das Ausmass der Länge, Breite und Höhe der Liebe Gottes immer besser erkennen, dann wird der Raum der Gnade immer tiefer, bzw. weiter. Gott will dass unser Glaube in die Tiefe und Weite der Liebe Gottes hineinwächst. Was das mit uns macht habe ich kürzlich persönlich erlebt. Die Woche vor der Eröffnung der Olympischen Spiele 2024 in Paris verbrachte ich in der Bibliothek, weil ich mich im Endspurt für meine Masterarbeit befand. Während die halbe Welt die Eröffnungsfeier vor dem Fernseher verfolgte, setzte ich mich intensiv mit dem Konflikt zwischen Gott und Menschen auseinander und wurde einmal mehr überwältigt von der Herrlichkeit und Kraft des Evangeliums. Von der Botschaft, dass dieser Heilige Gott eine Welt, die ihm die geballte Faust der Feindschaft entgegenstreckt, durch den Tod seines Sohnes mit sich selbst versöhnt (Römer 5,6ff), damit alle die an Jesus glauben nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben empfangen. Als ich mich nach dieser intensiven Auseinandersetzung mit dem Evangelium am nächsten Morgen auf den Heimweg machte, las ich noch kurz zuvor die neusten Nachrichten und stiess auch auf den Skandal rund um die Abendmahls-Inszenierung an der Eröffnungsfeier in Paris. Ich sah das Bild und las die ersten Interpretationen und machte mich dann auf den Weg. Während der Fahrt überkam mich ein tiefes Erbarmen und herzliches Mitleid. Ich sah in dieser, das Abendmahl ins Lächerliche ziehenden, Inszenierung die geballte Faust einer verlorenen Welt, was mich angesichts des Evangeliums von der unfassbaren Liebe, mit der Gott dieser Welt in Jesus Christus begegnete, überwältigte. Tränen brachen aus mir heraus und ich betete einen Teil dieser Fahrt für die Verantwortlichen und Schauspieler dieser Szene, dass sie doch die Liebe Jesu und die Kraft des Evangeliums erkennen können. Dabei war ich selbst am meisten überrascht von meiner Reaktion. Denn meine natürliche Reaktion auf solche Informationen ist eine andere: Verurteilung, Ablehnung, Lamenti über gesellschaftlichen Niedergang etc. Ich realisierte, wie das Eintauchen in das Evangelium mein Herz und meine Sicht auf die Welt verändert hat. Das ist die Frucht, wenn wir tiefer gehen. Je tiefer wir in die Wahrheit des Evangeliums eindringen umso weiter wird unser Herz für eine verlorene Welt. Daraus habe ich meinen dritten Gedanken abgeleitet.
3. Weiter wachsen
Ich bin zutiefst überzeugt, dass nicht nur die persönliche Hingabe und der Gehorsam eines jeden Christen von der Erkenntnis dieser Liebe Gottes abhängt, sondern auch die Erfüllung unserer Mission als Gemeinden in dieser Welt. Genau so begründet der Apostel Paulus in 2. Korinther 5,14 seine Motivation zur Mission: «Die Liebe Christi drängt uns»
Es geht also darum, motiviert von der Liebe und Gnade Gottes in die Weite zu wachsen. Nur so werden wir unsere Mission erfüllen. Wenn wir die Tiefe bzw. die Weite der Liebe Gottes erfassen, verinnerlichen und erleben, dann sprengt sie unseren Denk- und Aktionsrahmen und lässt uns Grenzen überschreiten.
Die Liebe Gottes ist nämlich nicht nur eine Zentripetalkraft, also eine Kraft die uns durch Christus zu Gott zieht, sondern auch eine Zentrifugalkraft, eine Kraft die uns nach aussen treibt, hin zu den Menschen, die die Liebe Gottes noch nicht erfahren haben.
Was bedeutet «weiter wachsen» nun konkret für die Verwirklichung unserer Mission? Dazu kann ich an dieser Stelle nur ein paar bruchstückhafte Ausführungen machen. Sie sind ausgewählt, nach dem was mich gerade besonders bewegt.
3.1 Weiter wachsen bedeutet, die Vorstellung von Mission aus Engführungen zu befreien
Es gibt leider einen langen unseligen Streit darüber, wie Mission zu verstehen ist. Hintergrund der Diskussion ist grob zusammengefasst die Tatsache, dass in den Grosskirchen aufgrund der liberalen Theologie das Fundament für die Weltmission zunehmend weggebrochen ist und Mission in der Folge stark diesseitsorientiert als Aufrichtung des Reiches Gottes durch soziale Aktion und den Kampf um soziale Gerechtigkeit verstanden wurde.
Auf diese einseitige und innerweltliche Verkürzung des Evangeliums reagierte die Evangelikale Bewegung mit einer noch stärkeren Betonung der Verkündigung des Evangeliums zum ewigen Leben und dem Fokus des Rufs zur Bekehrung. Streckenweise führte dieser Abwehrkampf bei den Evangelikalen ebenfalls zu einer Einseitigkeit und zu einer Abwertung von sozialer Aktion.
Wenn wir als FEG Schweiz in unsere Geschichte schauen, dann waren beide Elemente, das heisst die Verkündigung des Evangeliums und soziale Aktion in den Anfängen unserer Bewegung sehr organisch und komplementär miteinander verbunden. Auch die Lausanner Bewegung hat sich klar dafür ausgesprochen die Wortverkündigung und die soziale Aktion als sich gegenseitig ergänzend zu verstehen. Das schlug sich in diesem Jahr auch im Motto des 4. Lausanner Kongresses in Seoul nieder, der den Titel trug: “Let the Church declare and display Christ together.” (Die Kirche soll gemeinsam Christus verkünden und sichtbar machen)
Von einem meiner geistliche Lehrer habe ich das Bild, dass Evangelisation und Diakonie wie die beiden Flügel des Vogels Mission zu verstehen sind. Du kannst keinen abschneiden oder verkümmern lassen, ohne dem ganzen Vogel Schaden zuzufügen.
Ich bin überzeugt, wir brauchen eine solche ganzheitliche Sicht unserer Mission in dieser Welt. Christus ist ins Fleisch gekommen und hat den ganzen Menschen angesprochen. Deshalb sollten wir in der Praxis unserer Mission auch den ganzen Menschen ansprechen. In dieser Hinsicht waren mir die Christen, die wir vor ein paar Wochen in Kolumbien getroffen haben ein gutes Vorbild. Wir besuchten Gemeinden in den Armutsvierteln von Medellin und erlebten genau diese Ganzheitlichkeit. Klare Evangeliumsverkündigung gepaart mit beeindruckender sozialer Aktion und das von Christen, die selbst sehr arm sind aber das was sie haben mit den Menschen ihrer Umgebung teilen.
An einem der Orte den wir besucht haben, las ich ein Motto, das die Arbeitsweise dieser Christen auf den Punkt bringt. in grossen Buchstaben stand dort: «A holistic gospel for a holistic mission.» Ein ganzheitliches Evangelium für eine ganzheitliche Mission. Genau das wünsche ich mir auch für die FEG Schweiz. Einer der Pastoren dort sagte uns: “A Church without social work is just a social club”. Eine Kirche ohne sozialdiakonische Arbeit ist nur ein privater Club.
3.2 Weiter wachsen bedeutet, Grenzen zu überschreiten
a) Kulturelle Grenzen:Ralph Winter, ein Missiologe hat ausgehend von Apostelgeschichte 1,8 die Wirkungsfelder der Mission bzw. Evangelisation in vier konzentrische Kreise eingeteilt:
Mit E0 (Jerusalem) bezeichnete er die Zielgruppe der bestehenden Kirchenmitglieder und nominellen Christen. E0-Mission ist sozusagen «Fischen im eigenen Teich» unter Menschen die christlich sozialisiert sind und sogar noch eine gewisse Beziehung zu Kirche haben.
Mit E1 (Judäa) beschreibt er Nichtchristen bzw. Menschen, die kulturell oder sprachlich unsere nicht-christlichen Nächsten sind. Das heisst sie haben weitgehend dieselbe Kultur und sprechen dieselbe Sprache
Die Zone E2 (Samarien) dagegen beschreibt Nichtchristen einer anderen Kultur oder eines anderen sozioökonomischen Niveaus bzw. eines anderen gesellschaftlichen Milieus.
Die letzte Ebene, E3 (Enden der Erde) bedeutet, Nichtchristen mit grosser sprachlicher und kultureller Entfernung zu erreichen.
Bis in die 80er Jahre konnte man in der Schweiz noch sehr gut im Sektor EO und E1 evangelisieren und es haben sich nicht wenige Menschen bekehrt. Das ist heute in diesem Mass nicht mehr möglich, denn unsere Gesellschaft hat sich enorm verschoben. De facto haben wir es heute vor allem mit Nichtchristen einer anderen Kultur zu tun und bedingt durch die Migration zunehmend auch mit Nichtchristen grosser sprachlicher und kultureller Entfernung.
Das heisst, wenn FEG’ler vor 50 Jahren ihr Gemeindegebäude verliessen, dann trafen sie mit grosser Wahrscheinlichkeit auf christlich sozialisierte oder sogar kirchlich verbundene Menschen vor ihrer Haustür. Heute treffen wir vor der Haustür immer häufiger und an gewissen Orten sogar vorwiegend auf Menschen der Kreise E2 und E3. Um diese Menschen mit dem Evangelium erreichen zu können, müssen wir bewusst kulturelle, sozioökonomische und sogar sprachliche Grenzen überschreiten. Das bedingt, dass wir bereit sind, unsere Komfortzone zu verlassen.
Missionarische Grenzüberschreitungen fordern uns sehr heraus, denn es ist dem Menschen naheliegender unter Seinesgleichen zu bleiben.
Das Fremde irritiert uns und schreckt uns ab. Die einzige gesunde und anhaltende Motivation, die uns zu dieser Grenzüberschreitung motivieren kann ist die Liebe Christi die uns in den Gehorsam des Glaubens führt.
Wenn wir getrieben von dieser Kraft hingehen und den Menschen in unserem Umfeld begegnen, dann brauchen wir erweiterte Kompetenzen und ein breiteres Repertoire an Methoden der Evangeliumsverkündigung.
3.3 Weiter wachsen bedeutet unsere Kompetenz und unser Repertoire der Evangeliumsverkündigung zu erweitern
a) Kontextualisierung des Evangeliums: Ich habe Tim Keller schon zitiert. Er beschreibt Kontextualisierung mit den Worten, «dass wir die Vermittlung des Evangeliums und die Gemeindearbeit in eine bestimmte Kultur übersetzen und an sie anpassen ohne dabei das Wesen und die Eigenheiten des Evangeliums an sich zu verändern.» Kontextualisierung beschäftigt sich mit der Frage, wie wir die ewige Wahrheit des Evangeliums in eine Zielkultur hinsprechen können. Und zwar so damit die Menschen verstehen, was Gott ihnen sagen will. Das bedeutet konkret, wir müssen Anknüpfungspunkte für das Evangelium finden und das bedingt, dass wir uns mit den Menschen, ihrem Denken, ihren Fragen, ihren Nöten usw. auseinandersetzen. In der Weltmission mussten die Missionare schon immer so denken. Wir müssen lernen wie Missionare zu denken und zu handeln. Während man vor 30 Jahren mit den Themen des Alphalive-Kurses noch ein breiteres Publikum ansprechen konnte, ist die Frage: «Wer ist Jesus?» oder «Warum musste Jesus sterben?» weit weg von der Welt heutiger Zeitgenossen. Dietrich Schindler reagierte auf dieses Phänomen mit der Entwicklung des MyLife-Workshops. Dieser Sechsteilige Kurs beginnt mit der Frage «Wer bin ich? Was hat mich geprägt? Wie bin ich geworden wer ich bin?». Doch er bleibt nicht dort stehen, sondern führt die Teilnehmenden dahin, die Spuren Gottes in ihrem Leben zu entdecken und von dort zur Botschaft des Evangeliums.
b) Kontextualisierung unserer Methoden: Kontextualisierung der Methoden bedeutet, dass wir entdecken, wie man mit der Zielgruppe in eine konstruktive Interaktion treten kann. Auch hier hat sich die Welt verändert. Lernen ist deutlich partizipativer geworden. Auch in diesem Sinn ist der MyLife-Workshop kontextualisiert. Die Teilnehmenden werden vor allem durch weise Fragen angeleitet für ihre persönliche Entdeckungsreise und nicht angepredigt. Damit soll nicht die Predigt schlechtgeredet werden. Sie hat weiterhin ihren Platz, aber sie kann erst wirkungsvoll sein, wenn sie interessierte Zuhörer findet. Ein Interesse, das es erst einmal zu wecken gilt.
3.4 Weiter wachsen bedeutet, neue Gemeinden zu gründen, um andere Segmente der Gesellschaft zu erreichen
Grundsätzlich ist missionarische Gemeindegründung der effektivste Weg, um Unerreichte Menschen mit dem Evangelium zu erreichen. Dabei liegt meine Betonung auf dem Adjektiv «missionarisch».
Es mag auch immer wieder Gemeindegründungen geben, die vor allem auf Umverteilung von Gläubigen ausgerichtet sind. Aus meiner Sicht hat eine Gemeindegründung ohne missionarische Priorität nur selten eine Berechtigung.
Wo aber der evangelistische Wert zuoberst steht, da ist Gemeindegründung sinnvoll, effektiv und bereichernd, selbst wenn es an einem Ort bereits andere Gemeinden gibt. Allerdings sollten wir uns bewusst sein, dass unser klassisches Gemeindemodell gerade mal 2-3 von 9 gesellschaftlichen Milieus zu erreichen vermag. Die typische FEG hat die Vision einer mittelständischen Familienkirche und wenn es in der Kinderarbeit mal etwas runter geht, dann flehen wir Gott an, dass er neue Familien in die Gemeinde sendet, die kommen dann vor allem durch Zuzug aus anderen Gemeinden dazu, was ja auch schön ist.
Sehr leicht können wir mit diesem Fokus aber übersehen, dass unsere Gesellschaft immer mehr zu einer Ein-Personen-Haushalts-Gesellschaft wird und das betrifft in besonderem Mass die mit dem Evangelium unerreichten Menschen.
Darüber hinaus müssen wir bereit sein, Gemeinde neu zu denken, wenn wir die Grenzen zu den Sektoren E2 und E3 überschreiten wollen.
Sascha Rützenhoff, der Leiter der deutschen FEG Inlandmission hat mir erzählt, dass sie derzeit verschiedene Gemeindemodelle entwickeln und erproben. Eines trägt den Namen Kairos-Gemeinde. Es handelt sich um das Modell einer interkulturellen Gemeinde, mit dem sie in missionarischer Hinsicht gerade sehr ermutigende Erfahrungen machen.
Die FEG Deutschland hat sich das Ziel gesetzt in den nächsten Jahren in jeder deutschen Grossstadt, und davon gibt es rund 80, eine Kairos-Gemeinde zu gründen. Zusammenarbeit mit der Allianzmission als Kompetenzzentren für Interkulturalität.
Kurz nachdem ich mit Sascha gesprochen hatte, las ich in der NZZ einen Artikel über die Einsamkeit der Expats in der Schweiz. Expats sind Personen, die ohne Einbürgerung in einem ihnen fremden Land oder einer ihnen fremden Kultur leben, meist aus beruflichen Gründen. Im Grossraum Zürich gibt es Zehntausende solcher Menschen. In unseren Reihen gibt es ein junges Ehepaar, das ein grosses Anliegen hat, diese Menschen zu erreichen. Doch Gemeindegründung kostet eben auch Geld und funktioniert nur über das Prinzip des Investments.
In diesem Zusammenhang hat mich der Leiter eines indischen FEG Verbandes sehr beeindruckt. Lal ist sein Name. Er erzählte uns, wie in seiner Region neue Gemeinden entstehen. Am meisten beeindruckte mich die Aussage, dass in seinem Gemeindeverband jede neu gegründete Gemeinde 30% ihrer Finanzen in den Missionsfond gibt der dazu dient wiederum eine neue Gemeinde zu gründen. «Das erste was eine neu gegründete Gemeinde von uns als Verband will» sagte er, «ist ein Missionsprojekt für das sie geben und beten können.»
Liebe Delegierte, ihr merkt beim Thema Gemeindegründung gehen die Rösser mit mir durch. Ich wünsche mir von Herzen, dass wir in den nächsten Jahren in unserem Bund eine neue und frische Gemeindegründungsdynamik erleben dürfen. Ich sehne mich nicht nach einer Wiederholung der Geschichte, sondern nach neuer Kreativität und Gelingen, beides kann nur Gott uns schenken. Es kann auch nur gelingen wenn das neu von der Basis her geschieht. Wenn bestehende Gemeinden neue Gemeinden gründen. Lasst uns dafür beten und arbeiten.
Wenn ich über die Zukunft der FEG Schweiz nachdenke, dann sehe ich Gemeinden mit Mission, unterwegs um den Gehorsam des Glaubens aufzurichten.
Gemeinden die tiefer gegraben haben und das Evangelium der Liebe Gottes neu entdecken und verinnerlichen.
Ich sehe Gemeinden, die entzündet und getrieben sind von Gottes Liebe um eine verlorene Welt lieben und hingehen um den Unerreichten die beste Botschaft der Welt zu verkündigen und vorzuleben.
Dafür will und werde ich mich einsetzen, so wahr mir Gott helfe.
Rapperswil, 23. November 2024/Daniel Rath, Vorsitzender FEG Schweiz