Interview, geschrieben von Stefan Volkamer
Der 1961 in Teheran geborene Perser und Mediziner Masoud Mirzaie, verheiratet und Vater einer 15-jährigen Tochter, arbeitet als Chefarzt und Leiter des Gefäßzentrums Lippe in Lemgo. Als Kind und Jugendlicher hat er das Leben im Iran unter dem damaligen Herrscher Mohammad Reza Pahlavi, der 1979 vor der Islamischen Revolution über Ägypten, Marokko, die Bahamas, Mexiko, die USA und Panama flüchtete, geliebt und genossen. Kurz nach dem Sturz des Schahs aber verließ er selbst sein Land, um sich eine neue Existenz in Deutschland aufzubauen.
Stefan Volkamer(SV): Herr Professor Mirzaie, Sie sind 1961 in Teheran, der Hauptstadt des Iran, geboren worden und haben bis zu Ihrer Ausreise, die einer Flucht vor der Islamischen Revolution gleichkam, das Leben unter dem letzten Schah von Persien in vielen Facetten erlebt. Bis zu Ihrem 18. Lebensjahr. Wie blicken Sie heute auf diese Jahre zurück?
Masoud Mirzaie(MM): Unser Leben unter der autokratischen Herrschaft des Schahs Reza Pahlavi war eigentlich ziemlich gut. Unter ihm entwickelte sich der Iran zu einem der modernsten und wirtschaftlich stärksten Länder des Nahen Ostens. Das Wirtschaftswachstum war enorm. Wir hatten große Freiheiten in der Gestaltung unseres Lebens, auch in Bezug auf unsere Bildungs- und Meinungsfreiheit, allerdings nur, solange man sich nicht allzu stark gegen das Regime auflehnte. Das wir in einer diktatorischen Staatsform lebten, ließ sich in unserem Alltag nicht wirklich wahrnehmen, denn wir hatten alles, was wir brauchten. Gutes Einkommen, ordentliche Wohnverhältnisse, Lebensmittel jeder Art, ausgezeichnete Universitäten, an denen auch Frauen studierten und ein hohes Maß an innerer Sicherheit. Unser Leben war ruhig, es gab kaum Kriminalität, es trug schon fast paradiesische Züge. Für junge Menschen wie mich, die wissens- und bildungsdurstig waren, bot das Land viele Möglichkeiten. Es gab keinen Grund, Iran zu verlassen.
Iran – Armut und enormer Reichtum
SV: Iran gehörte zu den wenigen Ländern der Dritten Welt, die sich aus dem Zustand der Unterentwicklung befreit haben. Das Land verfügte über Geld, natürliche Rohstoffe und gut ausgebildete Arbeits- und hochgebildete Führungskräfte. Der rasante wirtschaftliche Aufstieg führte aber auch zu einer zunehmenden Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Die wirtschaftliche Macht im Staat konzentrierte sich in den letzten Jahren des Regimes auf ein paar Dutzend Familien, die dem Schah sehr nahestanden. Haben Sie das auch zu spüren bekommen?
MM: Sie haben schon Recht. Die Wirtschafts-, aber auch Agrarreformen haben für erhebliche soziale Unterschiede geführt. Die Kluft zwischen arm und reich wurde immer größer. Mein Vater war Bankangestellter und zählte damit zur gutsituierten Mittelschicht. Die völlig verarmten und extrem reichen Menschen haben wir aber nicht wirklich mitbekommen, auch wenn die Zunahme der Armenviertel in den Großstädten nicht zu übersehen war. Pahlavi wollte Iran zu einem führenden Industriestaat entwickeln. Die Europäische Union war dabei eines seiner Vorbilder. Über die Schattenseiten einer derartigen Entwicklung hat man hinweggesehen.
Ich wollte Arzt, kein Krieger werden
SV: Massendemonstrationen und Massenstreiks gegen die Politik des Schahs führten zur Islamischen Revolution unter ihrem späteren Revolutionsführer Ajatollah Chomeini. Sie beendete die Herrschaft des Schahs, er floh 1979 samt Familie, kam nie mehr zurück und verstarb ein Jahr später in Kairo. Die neuen Machthaber etablierten ein islamistisch-theokratisches Regime, einen schiitischen Gottesstaat, der sich bis heute mit Gewalt an der Macht hält. Wie haben Sie diesen Wechsel erlebt?
MM: Das neue Regime hat der Bevölkerung einen streng-islamischen Kodex auferlegt. Dazu gehörte auch die Islamische Reformierung der Universitäten, die jetzt als zu westlich orientiert galten. Sie wurden geschlossen, aber keiner konnte sagen, wie lange dieser Prozess dauern würde. Zeitgleich spitzten sich die Auseinandersetzungen mit dem Nachbarland Irak zu, die dann im September 1980 mit dem Beginn des Ersten Golfkrieg endeten. Vor diesem Hintergrund suchte die iranische Führung keine Studenten, sondern eher „Krieger“ bzw. Soldaten. Aber ich wollte kein Soldat werden, ich wollte unbedingt studieren.
SV: Und das ging dann nur noch im Ausland?
MM: Ja. Wäre ich in meinem Land geblieben, hätte man mich zur Armee eingezogen. Ich war gerade 18. Und mein Zwillingsbruder, der ebenfalls studieren wollte, auch. Das Verlassen des Landes war für uns allerdings nur unter widrigsten Bedingungen möglich. Gerade einmal 10% der Ausreisewilligen wurde die Ausreise gestattet. Meine Eltern finanzierten die Flugtickets für mich und meinen Bruder nach Frankfurt. Zwei Stunden nach dem Start einer der letzten Maschinen brach der Krieg mit dem Irak aus. Wir sind in allerletzter Minute rausgekommen.
SV: Und Ihre Eltern?
MM: Meine Eltern blieben im Iran. Von heute auf morgen waren wir zwei auf uns allein gestellt.
SV: Das muss ein schreckliches Gefühl gewesen sein?
MM: Ja. Das war es. Es ist kaum beschreibbar, denn wir kamen uns so verloren vor. Auf der einen Seite wussten wir nicht, was uns erwarten würde in Deutschland. In jeder Hinsicht eine komplett andere Welt. Aber was vielleicht noch schlimmer war, das waren die brennenden Fragen, ob und wann und unter welchen Umständen wir unser Land jemals wiedersehen würden. Und natürlich unsere Eltern und Geschwister. Und wir hatten Angst vor dem Versagen, Angst davor, es nicht schaffen zu können. Dies alles hat uns beide über einen langen Zeitraum gequält. Ich wusste an diesem Punkt nicht, dass wir unsere Eltern erst drei Jahre später wieder in die Arme nehmen konnten und das ich zwanzig Jahre warten musste, ehe ich in den Iran wieder einreisen durfte. Nur eines war uns klar: Wir reisen in ein Land, das uns Sicherheit und Bildung bieten kann. Hätten wir uns anders entschieden, wären wir in einem der acht Jahre dauernden Kämpfe, Luftschlägen und Feldzügen vermutlich ums Leben gekommen. Saddam Hussein wollte um jeden Preis die dominierende Macht am Persischen Golf werden, wie viel Blut es auch koste. Unser Blut sollte es ihn nicht kosten.
Neustart in Deutschland
SV: Warum Deutschland?
MM: Wir konnten nicht einfach in jedes Land unserer Wahl reisen. Wir brauchten ja eine Ausreisegenehmigung und ein Visum. Iran hatte Kulturabkommen mit wenigen europäischen Ländern, die noch nicht gekündigt waren. Dazu gehörten Italien, Deutschland, Österreich, Schweden und England. Deutschland aber war das einzige Land, das uns noch aufnehmen wollte. Die anderen Länder haben zwischenzeitlich abgewunken oder extreme Hürden aufgebaut. Allerdings war für uns Deutschland, das Land der Dichter und Denker, die erst Wahl. Wir hatten Glück, ein weiteres Mal.
SV: Kurz nach Ausbruch des Krieges sind Sie also in Frankfurt gelandet. Und dann?
MM: Von Frankfurt aus sind wir direkt nach Bielefeld gefahren, wo einer unserer Cousins lebte. Bei ihm haben wir dann für die nächsten zwei Monate gewohnt und einen Deutsch-Sprachkurs absolviert. Da unser iranischer Schulabschluss aber nicht als Abitur anerkannt wurde, haben wir dieses in Münster nachgeholt. Dort sind wir in einem Studentenwohnheim untergekommen. Zwischenzeitlich habe ich mit dem Gedanken gespielt, Flugingenieur zu werden. Diesen Gedanken habe ich aber schnell wieder aufgegeben, denn ich wollte unbedingt einen Beruf ausüben, bei dem ich mit Menschen zu tun habe, bei dem ich Menschen helfen kann. Mit dem deutschen Abitur in der Tasche habe ich mich dann an drei verschiedenen Universitäten beworben, eine davon war die medizinische Fakultät der Universität Göttingen. Und die haben mich dann auch angenommen. Es gibt nur wenige Städte in Deutschland, die so viel Wissen schafft, so schön ist und ein derart intensives und abwechslungsreiches Studentenleben bietet wie Göttingen. Ich habe mich da sauwohl gefühlt.
SV: Und dort hat sich auch Ihr Wunsch ergeben, Gefäßchirurg zu werden?
Der Entschluss stand fest: Gefäßchirurgie
MM: Nein, jedenfalls nicht gleich. Ursprünglich wollte ich HNO-Arzt werden. Nachdem ich aber bei einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt hospitiert habe, bin ich schnell wieder davon abgekommen. Auch die Bereiche Gynäkologie und Orthopädie konnte ich mir vorstellen, aber auch hierfür konnte ich mich letzten Endes nicht einhundertprozentig entscheiden. Erst als ich praktische Einblicke in die Chirurgie bekam, insbesondere in die Gefäßchirurgie, stand mein Entschluss fest. Bis es dann aber so weit kommen sollte, führte mich mein Weg noch für etliche Jahre über die Allgemeinchirurgie, die Thoraxchirurgie bis zur Herzchirurgie. Dazwischen habe ich promoviert und wurde mit 39 Jahren zum Professor habilitiert. Seit 19 Jahren bin ich jetzt Chefarzt am Klinikum in Lemgo und leite das Gefäßzentrum Lippe.
SV: Sie haben also nicht versagt, sondern sind ein anerkannter Spezialist für Gefäßkrankheiten geworden. Also ein Facharzt, der sich der Behandlung und ggfls. Operation von Krankheiten widmet, die mit Venen, Arterien und Lymphbahnen zusammenhängen und der bei Leiden wie Durchblutungsstörungen, Krampfadern, Thrombosen und chronischen Wunden konsultiert wird.
MM: So kann man es ausdrücken, ja. Einfach gesprochen. Wobei mir wichtig ist zu erwähnen, dass ich grundsätzlich nur dann zu einer Operation rate, wenn diese absolut unumgänglich ist. Die Symptome einer Krankheit zu erkennen ist einfach. Ihre Ursachen zu erkennen ist viel, viel schwieriger und ein oftmals hochgradig komplexer Vorgang. Die Erforschung der Ursache oder der Ursachen, die einer Krankheit zugrunde liegen, ist in vielen Fällen ein Zusammenwirken mehrerer Fachdisziplinen und Spezialisten. Je mehr Wissen und je mehr Erfahrungen wir anzapfen, um einem Leiden auf den Grund zu gehen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, Patienten auch ohne operativen Eingriff helfen zu können. Die Operation ist immer das letzte Mittel und nicht die einsame und alleinige Entscheidung eines „ärztlichen Halbgottes in Weiß“, wie es ihn in früheren Zeiten gab. Als Mediziner hat man nie ausgelernt, denn die Medizin entwickelt sich immer weiter. Fast täglich landen bei mir und meinen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen neue Studienberichte auf dem Tisch, deren Essentials für die optimale Behandlung von Patienten von fundamentaler Bedeutung sind. Wissensdurst gehört zu den wichtigsten Eigenschaften eines guten Arztes, und wenn ein ganzes Team an der permanenten Weiterbildung arbeitet, dann können sich Patienten in den besten Händen fühlen.
SV: Aber was ist in den Fällen, in denen Sie keinen kausalen Zusammenhang zwischen Symptom und Ursache erkennen können? Wenn das Leben des Patienten auf Messers Schneide steht? Wenn sofort entschieden werden muss, ohne vergleichbare Fälle oder die Erfahrung anderer Ärzte in die Entscheidung mit einbeziehen zu können?
MM: In solchen ganz, ganz seltenen Fällen geht es um Leben oder Tod. Dann operieren wir sofort und stellen die Fragen nach der Ursache danach. Aber wie gesagt, das kommt äußerst selten vor.
Das Buch seines Mediziner-Lebens
SV: Über diese Fälle haben Sie ein Buch geschrieben?
MM: Mein Buch beschreibt die komplexen und wirklich komplizierten Krankheitsfälle, mit denen ich in den letzten 10 Jahren zu tun hatte. In jedem einzelnen Fall wird die Anamnese, Symptomatik, das Ergebnis der Bildgebung, die Behandlungsindikation sowie therapeutische Überlegungen, die durchgeführten Therapien und das Endergebnis dargestellt. Es soll meinen Fachkollegen helfen, wenn sie auf ähnlich gelagerte Fälle stoßen. Es dient der Weitergabe von Wissen und Erfahrungen, um die Sicherheit des Patienten auch an anderen Kliniken zu erhöhen. Ich habe neun Jahre daran gesessen. Dieses Buch ist Teil meines Lebens als Mediziner.
Sheila und Pantea − seine Familie
SV: Sie teilen Ihr Leben mit Frau und Tochter. Wo haben Sie Ihre Frau kennengelernt?
MM: Ich habe meine Frau Sheila, die ebenfalls Ärztin ist, im Iran kennengelernt. Sie ist Perserin. Meine Eltern konnten mich und meinen Bruder, der übrigens Zahnarzt geworden ist, erst drei Jahre nach meiner Ausreise in Deutschland besuchen, ich aber musste zwanzig Jahre warten, bevor ich wieder in den Iran reisen konnte. Sonst hätte man mich direkt an der Grenze zum Militär eingezogen, und auf den Ersten Golfkrieg folgte ja auch noch der Zweite Golfkrieg. Ich war Ende dreißig, als ich meine Frau kennenlernte. Wir haben später geheiratet und unsere Tochter Pantea bekommen. Sie ist inzwischen 15 Jahre alt, sie malt gerne wie ihre Mutter, sie schreibt schon Bücher und hat den gleichen Wissensdrang wie meine Frau und ich. Sie möchte unbedingt Veterinärmedizinerin werden und ich bin mir sicher, dass auch sie ihren Weg gehen wird. Anders als im heutigen Iran stehen ihr − auch als Frau – alle Türen offen und so kann sie ihr Leben selbst bestimmen. Wir sind mächtig stolz auf sie. Früher fühlte ich mich im Iran sicher und gut. Heute ist Deutschland mein Zuhause und das meiner Familie. Wir fühlen uns hier pudelwohl und ich habe meine Entscheidung, den Iran zu verlassen, nie bereut. Die Angst, die ich damals im Flugzeug verspürte, ist aber irgendwie geblieben, nur kanalisiert sie sich heute anders. Wir haben noch viel Verwandtschaft und viele Freunde im Iran und keiner weiß, was da noch kommen mag. Die geopolitische Situation ist aktuell brandgefährlich, und nichts würde uns glücklicher machen als ein endlich wieder friedliches Iran mit glücklichen und freien Menschen. Wenn ich noch einen großen Wunsch in meinem Leben habe, dann ist es dieser.
Danksagung:
Sehr geehrter Professor Mirzaie, danke für das sehr angenehme Gespräch und den schönen Nachmittag.