Stell dir vor, bestimmte Arbeiter in einem Weinberg bekommen für nur eine Stunde Arbeit genau so viel gezahlt wie andere Arbeiter für 12 Stunden. So etwas erzählt Jesus in einem Gleichnis in Mt 20,1–16. Als dann ein Arbeiter sich darüber beschwert, sagt der Chef: «Bist du etwa neidisch, weil ich so gnädig bin?» – Ist das nicht unfair?
Die Zuhörer haben volles Verständnis für die 12-Stunden-Arbeiter – das Verhalten des Chefs ist für sie dagegen sehr unfair. Jesus will die Zuhörer schockieren, damit sie über Gnade nachdenken.
Die Arbeiter sind Tagelöhner. Jeder braucht einen Denar, um mit seiner Familie zu überleben. Wer weniger bekommt, muss oft hungern. Am schlechtesten haben es Tagelöhner mit sichtbaren Behinderungen – sie werden oft gar nicht angestellt. Einige sind sicher unter denen, welche zum Schluss noch kommen und nur eine Stunde arbeiten.
Die ersten Arbeiter waren am Anfang mit einem Denar einverstanden. Also werden sie nicht unfair behandelt. Ihr Unmut kommt woanders her: Sie wollen, dass nach Leistung abgerechnet wird. Aber der Chef weiss, dass alle zum Überleben einen Denar brauchen. Und aus Gnade gibt er denen, die nur eine Stunde gearbeitet haben, auch so viel, wie sie benötigen.
Wir lernen: Gott gibt nach Bedürftigkeit, nicht nach Leistung. Und das ist Gnade. Wenn es nur nach Leistung geht, hat die Gnade keinen Platz.
Das gefällt uns nicht immer. Andere sollen es nicht besser haben als wir, wenn sie das doch gar nicht verdienen! Wer einen ganzen Denar will, soll bitte schön so wie wir den ganzen Tag arbeiten, auch in der Mittagshitze! Sonst hat er den Denar nicht verdient.
Gnade ist unfair – aus der Perspektive von jemandem, der will, dass nach Leistung abgerechnet wird. Aber ich muss sagen: Ich als Bedürftiger möchte lieber Gnade! Deshalb bin ich damit einverstanden, dass Gnade auch anderen Bedürftigen einfach so geschenkt wird. Auch wenn sie sie nicht verdient haben. Aber genau so ist Gnade nun mal – unverdient.
Paulus schreibt später (Röm 4,4–5 NGÜ): «Wenn jemand durch eigene Leistungen für gerecht erklärt werden will, ist er wie ein Arbeiter, dessen Lohn auf der Grundlage des Geleisteten berechnet wird. Was er bekommt, bekommt er nicht aus Gnade, sondern weil man es ihm schuldet.
Wenn hingegen jemand, ohne irgendwelche Leistungen vorweisen zu können, sein Vertrauen auf Gott setzt, wird sein Glaube ihm als Gerechtigkeit angerechnet, denn er vertraut auf den, der uns trotz all unserer Gottlosigkeit für gerecht erklärt.» Diese Verse passen wie die Faust aufs Auge zum Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg.