Geschrieben und fotografiert von Stefan Volkamer
Von nordindischen Dorfjungen zum angesagten Detmolder Gastronomen
Wer sich mit den vielen auf unserer Welt verbreiteten Religionsgemeinschaften ein wenig auskennt, dem wird es nicht schwerfallen zu erraten, aus welchem Land und sogar welchem Landesteil der 44-jährige Sukhjinder Singh vermutlich stammt, wo er geboren wurde. Denn Singh ist ein weit verbreiteter indischer Nachname, der von allen männlichen Mitgliedern der Sikh-Gemeinschaft als Ausdruck von Geschwisterlichkeit getragen wird. Abgeleitet aus dem Wort Simha bedeutet Singh so viel wie Löwe. Und stark wie ein Löwe musste Sukhjinder auch sein, um sich − aus eher durchschnittlichen, indischen Verhältnissen stammend − zu einem der angesagtesten Gastronomen Detmolds hochzuarbeiten. Der kleine Junge aus einem 300-Seelendorf an der nordindisch-pakistanischen Grenze führt heute als Inhaber und Betreiber das beliebte Restaurant „Taste of India“, das sich auf die original nordindische Küche spezialisiert hat und ihrem hinduistischen Einfluss wegen vorwiegend vegetarisch ausgerichtet ist. Aber auch vegane Speisen und zahlreiche Gerichte mit Hähnchen, Fisch, Lamm und Ente werden in der Küche des „Taste of India“ zubereitet und sorgen für Entzückung bei den Gästen.
„Ich stamme aus einem kleinen Dorf am Stadtrand von Gurdaspur, das ist eine Stadt im indischen Bundesstaat Punjab. Zum Zeitpunkt meiner Geburt lebten dort nur wenige hundert Menschen. Meinen Eltern ging es wirtschaftlich gut, sie hatten eine solide Arbeit und damit ein sicheres und überschaubares Einkommen. Es reichte für uns alle, für mich, für meine Geschwister und meine Eltern selbst. Geholfen hat uns aber auch einer der Grundsätze unserer Religion, der darin besteht, anderen Menschen – unabhängig ihrer Herkunft, ihres Standes und ihres Glaubens – stets hilfreich zur Seite stehen. Unser Dorf war wie eine große Bruderschaft, in der jeder versuchte, dem anderen zu helfen und ihn zu unterstützen, denn unsere Religion ist eine Religion der Liebe, des Dienstes und der Gemeinschaft. Sie hat uns die Stärke gegeben, unser Leben zu meistern und mir die Kraft, heute ein glückliches und erfülltes Leben als dreifacher Familienvater und Gastronom führen zu können.“
Der Topfgucker
Als „chota ladka“, als kleiner Junge, hatte er eine glückliche Kindheit. Die Dorfgemeinschaft hielt zusammen, man unterstütze sich gegenseitig, jeder kannte jeden, es gab viel Zeit zum Spielen und Rumtoben. Auch wenn es seiner Mutter − wie ihm heute − nicht gelang, über 100 verschiedene Speisen für die Familie anzurichten, so hat er doch von ihr viel gelernt. Er war nämlich der Topfgucker unter den Geschwistern. Er war derjenige, der mit großer Neugier und Interesse seiner Mutter beim Kochen über die Schulter schielte. „Was meine Mutter aus den damals vorhandenen und üblichen Zutaten am Ofen für uns zubereitet hat, das hat mich begeistert. Sie war wie eine Zauberin am Herd, hatte sich immer wieder neue Variationen für uns ausgedacht und damit meine Freude am Kochen entfacht. Das, was ich heute mit großer Leidenschaft beruflich mache, hat sie ausgelöst“, gibt Sukhjinder zu. Aber vorerst sollte das mit dem Kochen und dem eigenen Restaurant in Deutschland noch nichts werden.
Seine schwerste Entscheidung
„Das Indien meiner Kindheit und Jugend war damals – und heute ist es auch nicht viel anders – durch Korruption und Vetternwirtschaft geprägt. Wer nicht genügend Rupien in der Tasche hatte oder zumindest über gute, weitreichende Beziehungen verfügte, der hatte es schwer, beruflich nach oben zu kommen. Fleiß und viel Arbeit reichten zu dieser Zeit nicht, um voranzukommen, um aus seinem Leben etwas zu machen. Ohne viel Geld im Hintergrund und ohne gute Kontakte sah meine berufliche und wirtschaftliche Zukunft daher eher düster aus, aber ich wollte unbedingt vorankommen. Ich musste mein Leben in meine eigene Hand nehmen, es ändern, eine Kerbe einschlagen in alles Bisherige, eine Art Schlussstrich ziehen. Ein anderes, ein neues, ein an Perspektiven reicheres Leben auf eigenen Beinen“, gesteht er. Beine, die ihm aber zitterten, wie er zugibt. 1998 verließ er Nordindien und alle Menschen, die ihm bis dahin lieb und teuer geworden sind. Es war die schwerste Entscheidung in seinem bisherigen Leben. „Ich werde diesen Tag niemals vergessen“, erinnert er sich. „Alles aufzugeben, in das man in all den Jahren hineingewachsen ist, Familie, Freunde, Bekannte. Diese Bindungen für eine Zukunft zu kappen − zumindest räumlich − die ungewiss und voller Hindernisse sein kann … ich hätte diese Entscheidung niemals treffen können, hätten sich meine Familie und Freunde nicht dahinter gestellt.“
23. April 1998 – ein neues Leben beginnt
Mit wenig Gepäck sitzt Sukhjinder Singh in einem Flugzeug nach Deutschland. Er will nach Köln zu einem seiner zahlreichen Cousins, der dort schon länger lebte. Ein Sikh wie er, hilfreich und unterstützend. Doch aus dem längerfristig geplanten Deutschlandaufenthalt und dem Wunsch, hier arbeiten und leben zu können, wurde nichts. Die Behörden verweigertem ihm die dafür notwendige Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung. Nach drei Monaten musste er Deutschland wieder verlassen. Doch wohin? Zurück nach Indien oder in ein anderes Land? Mit enttäuschten Erwartungen sah er dem Ende seines Deutschlandtraums entgegen. „Nach Indien zurückzugehen kam nicht in Betracht. Ich sah dort keine Möglichkeiten, mich vernünftig entwickeln und eine solide Existenz aufbauen zu können. Meine Wahl fiel auf Portugal, denn wer dort eine Arbeitsgenehmigung erhielt und eine Arbeit auch tatsächlich vorweisen konnte, der bekam auch problemlos eine Aufenthaltsgenehmigung“, so Sukhjinder Singh. Anstatt mit dem Flugzeug zurück nach Indien und dann weiter in seine alte Heimat zu reisen, setzte er sich ins Auto und fuhr nach Lissabon. Dort bemühte er sich, eine Arbeitsstelle zu finden, und die fand er tatsächlich auch. „Ich hatte nach vielen Versuchen und Anläufen eine Arbeit als Baustellenhelfer gefunden, und damit stand einer Aufenthaltsgenehmigung nichts mehr im Weg. Das ging dann ganz schnell und völlig unkompliziert“, erinnert er sich.
Ein neues Land, eine neue Mentalität, eine neue Sprache, ein neuer Kulturkreis und keinerlei Kontakte. Die erste Zeit in Portugal war schwer, die Arbeit anstrengend. Doch einsam fühlte er sich nicht. „Die Anfänge waren nicht leicht für mich, aber je mehr Kontakte ich dort knüpfen und je mehr Freunde ich dort gewinnen konnte, desto schneller fühlte ich mich dort auch wohl. Portugal ist ein sehr schönes Land, ein Land mit freundlichen Menschen und angenehmen Klima. Und Lissabon selbst ist eine großartige Stadt mit historischem Charme, kultureller Vielfalt und einer atemberaubenden Aussicht auf das Meer“, meint Sukhjinder.
Eheschließung durch die Eltern
Die Stärke des Löwen hat ihn von der indisch-pakistanischen Grenzregion über Deutschland nach Portugal gebracht. Diese innere Stärke und sein unbeugsamer Wille spürte auch sein Arbeitsgeber. Er ermöglichte ihm eine Ausbildung zum Baumaschinenführer und damit ein erheblich höheres Einkommen als bisher. Sukhjinder war angekommen. Ankommen sollte er aber auch privat, denn seine Eltern hatten – für die damalige Zeit üblich – zwischenzeitlich seine Ehe arrangiert und ihm seine künftige Frau ausgesucht. Sie kam aus einem Ort etwa 200 km von seinem Heimatdorf entfernt, die beiden Familienclans kannten sich. „Als ich mich auf den Weg zu meiner eigenen Hochzeit machte, war ich schon mächtig nervös. Ich kannte meine zukünftige Frau ja nicht, wusste nicht viel über sie und hatte nur ein wirklich schlecht gemachtes Foto von ihr. Ich wusste nicht, ob sie charmant oder eher spröde ist, ob ich mit ihr klarkommen und ob ich sie jemals wirklich lieben könnte. Mir schlotterten die Beine, alles war vorbereitet, über 100 Gäste waren eingeladen. Absagen ging nicht. Abhauen ging auch nicht. Und dann stand sie plötzlich vor mir. Lächelnd, strahlend und wunderschön. Von einer Sekunde auf die andere hörten meine Knie auf zu zittern, jede Form von Anspannung fiel wie ein Stein zu Boden und ich fühlte mich wie der glücklichste Mann der Welt“, erinnert sich Sukhjinder an diesen ganz besonderen Tag in seinem Leben. Mit seiner jungen Frau flog er nach den Feierlichkeiten zurück nach Lissabon, sie suchten sich eine größere Wohnung und knapp ein Jahr später kam auch schon das erste von insgesamt drei Kindern zur Welt. Da war er 23 Jahre alt. Und seine Frau 19.
Portugal sollte für einen langen Zeitraum die Heimat des jungen Paares bleiben. Für zwölf Jahre. Eine gute Zeit, in der auch das zweite Kind geboren wurde. „Als Baumaschinenführer verdiente ich in Portugal nicht schlecht, trotz des niedrigen Lohnniveaus dort. Für eine vierköpfige Familie allerdings konnte es schon mal zu Engpässen kommen, wenn ich ganz ehrlich bin. Und so richtig wohl fühlte ich mich in diesem Job auch nicht. Meine Leidenschaft gehört der nordindischen Küche, wie ich sie von meiner Mutter gelernt habe. Mein Traum war nicht Baumaschinen zu fahren. Mein Traum war das Kochen und vielleicht sogar irgendwann mal das eigene Restaurant.“
Kochen in bayerischer Idylle
Dieser Traum sollte 2009 in Erfüllung gehen. Und zwar im bayerischen Oettingen, einer idyllischen Kleinstadt im schwäbischen Landkreis Donau-Ries. Über Kontakte in Deutschland erhielt Sukhjinder das Angebot, in einem indischen Restaurant als Koch zu arbeiten. „Als man mir das Angebot machte, künftig als Koch zu arbeiten, war meine Freude grenzenlos. Ich war kaum noch zu halten und auch meine Frau und meine beiden Kinder waren begeistert.“ Es war die Möglichkeit, seine Leidenschaft fürs Kochen zum Beruf zu machen und gleichzeitig in Deutschland zu leben, das ihn Jahre vorher abgelehnt hat. „Deutschland hatte für uns immer schon einen ganz besonderen Reiz. Anders als in meinem Heimatland ist hier alles vernünftig geregelt, das Land ist sauber, solide aufgestellt, sehr hilfsbereit und einkommensstark. Wer in Deutschland bereit ist viel und hart zu arbeiten, der kann es hier auch zu etwas bringen. Fleiß und harte Arbeit werden nämlich belohnt, Korruption und Bestechung hingegen nicht.“
Das idyllische Kleinod mit Schloss, Kirchturm, alten Gassen und Brauerei empfing Sukhjinder und seine Familie mit offenen Armen und der Betreiber des Restaurants war froh, einen so versierten und zuverlässigen Koch gefunden zu haben. Seine Frau absolvierte neben ihren familiären Pflichten eine Ausbildung zur Bäckerin, und bald kam auch schon das dritte Kind zur Welt. Weitere 12 Jahre sollten aber noch vergehen, bis der größte seiner Träume in Erfüllung ging. Ein eigens Restaurant, das „Taste of India“ in Detmold.
Sein Traum geht in Erfüllung
Von nach Oettingen nach Lippe? „Ich habe einen Cousin in Paderborn, der ein sehr guter und erfahrener Koch ist. Ihm habe ich oft von meinem Traum erzählt, irgendwann einmal mein eigenes Restaurant haben zu wollen. Eines Tages sagte er zu mir, dann müsse ich so allmählich anfangen, diesen Traum Realität werden zu lassen. Lippe ist ein schöner Landstrich in Deutschland und die vielen Städte und Gemeinden sind sehr liebens- und lebenswert, meinte er. Immer wieder waren meine Frau und ich hier, um uns alles anzusehen. Dabei hat uns Detmold am besten gefallen.“ Damit war die Entscheidung getroffen und es begann die Suche nach einem freistehenden Lokal „idealerweise im Herzen der schönen Detmolder Altstadt.“
Und es gab eines. Bedingt durch die bittere Zeit der Corona-Pandemie standen die Räume eines ehemals chinesischen Restaurants leer, die aber keiner anmieten wollte. Nach Gesprächen mit dem Eigentümer, etlichen Behördengängen und Treffen mit der Bank fiel Mitte 2022 der Startschuss für das Vorhaben, und am 15. November 2022 feierten Sukhjinder, seine Frau und Kinder und viele Freunde, Bekannte und Familienmitglieder die Eröffnung des „Taste of India“. Detmold war auf einen Schlag um eine neue Attraktion reicher und Sukhjinders größter Wunsch ging in Erfüllung. „Das Restaurant bestand anfangs aus nur einem großen, hallenartigen Raum, den wir zunächst mit lediglich 40 Sitzplätzen ausgestattet haben. Danach haben wir auf 60 und später auf 80 Plätze erhöht. Um den Geräuschpegel zu senken, haben wir den Raum im Laufe des Jahres in kleinere, offene Einheiten mit schallabsorbierenden Trennwänden aufgeteilt. Dadurch haben wir eine besonders leise und ruhige Atmosphäre geschaffen, an der sich unsere Gäste sehr erfreuen. Und unsere Mitarbeiterinnen im Service ebenso“, erklärt Sukhjinder. Heute können im „Taste of India“ 94 Gäste bewirtet werden, die Freifläche bietet im Sommer Platz für weitere 40 Gäste.
Gekocht wird nur die original nordindische Küche. Dafür sorgen nicht nur Sukhjinder und seine Frau, sondern auch die drei indischen Köche, die ihre Ausbildung zum Teil in der indischen Spitzengastronomie erhalten haben. „Unsere Gerichte sind original. Die meisten trockenen Zutaten kommen direkt aus Indien, Gemüse, Salat und Fleisch aus der Region. Die müssen unbedingt knackfrisch sei. Die nordindische Küche ist überwiegend vegetarisch. Für unsere deutschen Gäste bieten wir aber auch Gerichte mit Hähnchen, Fisch, Lamm und Ente. Das Einzige, was wir gegenüber der Originalzubereitung etwas zurückgenommen haben, ist die Schärfe. Wer es aber richtig scharf haben möchte, dem sei auch das gegönnt“, sagt Sukhjinder mit einem betonten Lächeln.
Gemeinschaft leben
Wer das Restaurant einmal betreten hat, der spürt sofort, dass hier Gemeinsamkeit gelebt wird. Alle Mitarbeiter, ob im Service oder der Küche, strahlen eine Ruhe und Zufriedenheit aus, die für den oft hektischen Restaurantbetrieb eher eine Seltenheit sind. „Sich gegenseitig zu helfen, zu unterstützen, zu beschützen und sich gemeinschaftlich in den Dienst anderer – in diesem Fall unserer Gäste − zu stellen, ist Teil unseres Glaubens. Und den praktizieren wir eben auch im Restaurant. Wir fühlen uns als Teil einer großen Familie und ich fühle mich als Oberhaupt dieser Familie jedem einzelnen Mitarbeiter gegenüber verpflichtet, dass es ihm gut geht, dass er genügend isst, dass er nicht überfordert wird, dass er sich wohl bei uns fühlt und auch sicher nach Hause kommt“, erläutert Sukhjinder. Neben dem exzellenten Essen und dem erstklassigen Preis-Leistungsverhältnis werden wohl auch seine Religion und seine Einstellung Mitmenschen gegenüber für den großen Erfolg des „Taste of India“ verantwortlich sein. Wer sich den Geschmack Nordindiens auf der Zunge zergehen lassen möchte, der sollte unbedingt vorher reservieren. Das Lokal ist in der Regel ausgebucht.
Der kleine Junge aus Gurdaspur hat die Kraft des Löwen für sich und seine Familie gut genutzt und seinen Traum von einem eigenen und angesagten Restaurant erfüllt.
Danksagung:
Lieber Sukjjinder, vielen Dank für Dein Mitwirken an diesem "köstlichen" Projekt.