Vom 6.–8. November 2023 fand im Ländli die Pastorenkonferenz statt. 150 Angestellte im pastoralen Dienst widmeten sich dem Thema «Freie Evangelische Gemeinden mit Mission – in einem veränderten Umfeld bewusst missionarisch bleiben». Ziel war, den Blick zu schärfen für das gesellschaftliche Umfeld, in dem wir heute Gemeinde leben und bauen. Gottes Wort und sein Geist sollen neues missionarisches Feuer anfachen. Prof. Dr. Philipp Bartholomä (FTH Giessen) gab als Redner wertvolle Impulse.
Die Fragen stellte Deborah Vassen, Kommunikation FEG Schweiz, deborah.vassen@feg.ch
Philipp, du bist der Referent auf unserer Pastorenkonferenz – wer bist du als Person?
Ich bin verheiratet, habe zwei Kinder (9 und 6), war 13 Jahre Pastor einer freikirchlichen Gemeinde in Süddeutschland und bin seit knapp vier Jahren Professor für praktische Theologie an der FTH Giessen mit Schwerpunkt Gemeindeaufbau. Ich habe diese zwei Seelen in meiner Brust: das Pastorale und das Akademische – das versuche ich im neuen Dienst zu verbinden.
Du hast kürzlich mit Stefan Schweyer ein Buch geschrieben: «Gemeinde mit Mission – damit Menschen von heute leidenschaftlich Christus nachfolgen.» Warum ist dir Gemeinde so wichtig?
Gemeinde ist mir wichtig, weil Christus für sie gestorben ist. Er hat sie ins Leben gerufen. Es ist sein Projekt, um in dieser Welt Heil zu wirken und Erlösung zu manifestieren. Persönlich habe ich in meinen 13 Dienstjahren Gemeinde als extrem schön und bereichernd erlebt. Nicht ohne Herausforderungen, aber als eine wunderbare Erfindung Gottes, mit unterschiedlichen Menschen, vom Evangelium durchdrungen, in dieser Welt unterwegs zu sein. Diese positive Gemeindeerfahrung hat meine Leidenschaft geweckt: Ich will meinen kleinen Beitrag bringen, damit Gemeinden gesund gegründet und gestaltet werden. Das ist mein Herzschlag.
Wir erleben wenig Bekehrungen und Wachstum. An einer Stelle schreibt ihr: «Jede Kultur ist für das Evangelium anschlussfähig.» Was meinst du damit?
Es gibt in jeder Kultur tiefe menschliche Fragen, auf die das Evangelium von Christus am Ende die Antwort ist. Auch in unserer säkularen Kultur, wo Glauben vielen quasi unmöglich scheint, fragen Leute: «Was gibt mir Hoffnung? Wo finde ich Sicherheit? Wohin gehe ich mit meinen Ängsten?» Momentan, wo vieles im Umbruch ist, wo Leute irritiert, überfordert sind, vieles krisenbehaftet ist, bleiben diese Fragen zentral. Wenn wir Netflix schauen, merken wir: Jede Story beantwortet sie auf die eine oder andere Art. Häufig sind es Erlösungsnarrative: «Wo finde ich das, wonach mein Herz sich sehnt?» Da haben wir nach wie vor – auch in unserer Kultur – eine Chance zu sagen: «Die Antwort des Evangeliums ist am Ende die Tragfähigste.» Wir müssen das Evangelium nicht krampfhaft anschlussfähig machen, sondern es hat diese Antwort, diese Kraft in sich. Wir müssen nur die Anknüpfungspunkte finden, und das ist tatsächlich nicht so einfach in unserer Zeit.
Ihr sprecht davon, dass wir in den Gemeinden einen «hoffnungsvollen Realismus» brauchen. Was meint ihr damit? Worin besteht die Herausforderung?
Wenn wir keine Hoffnung haben, fehlt uns der Antrieb, uns leidenschaftlich für den Aufbau von Gemeinden einzusetzen. Wenn uns der Säkularismus als ein so grosser, unüberwindbarer Widersacher erscheint, verlieren wir die Hoffnung und damit auch unsere missionarische Wirksamkeit. Deswegen müssen wir fragen: «Wo finden wir Hoffnung?» Zum Beispiel in der Tatsache, dass Christus sagt: «Ich werde meine Gemeinde bauen.» Das heisst nicht, dass jede Gemeinde an jedem Ort den Megaaufbruch erlebt, aber am Ende kommt Gott mit seinem Volk ans Ziel. Gott ist immer noch Gott, der jetzt nicht auf einmal das grosse Zittern kriegt, weil die Zeit säkular ist. Er kann damit umgehen, wie er mit allem anderen in der Geschichte auch umgehen konnte. Das gibt Hoffnung.
Der Realismus kommt daher, dass ich viele sehe, die diese Leidenschaft verloren haben. Die Hoffnung war gross, dass jetzt «mit diesem oder jenem Konzept» endlich der grosse Aufbruch kommt. Und jetzt machen sie aus Frustration nur noch Dienst nach Vorschrift.
Können wir noch dankbar sein für den einen Sünder, der umkehrt und Busse tut? Zu hoffen, dass heute an einem Tag Tausende in Europa zum Glauben kommen wie in der Apostelgeschichte, das wäre unrealistisch. Wir wollen die Spannung halten: Grosse Hoffnung, Sehnsucht, dass Gott noch mal Grösseres tut, als wir bisher zu unseren Lebzeiten erlebt haben. Aber gleichzeitig eine Dankbarkeit und die kleinen Anfänge nicht verachten (Sacharja 14). Wir brauchen eine missionarische Leidenschaft, die so nachhaltig ist, dass sie auch mit überschaubaren Erfolgen umgehen kann und uns bei der Stange hält.
Du hast als Pastor in der Gemeinde Aufbruch, aber auch enorme Widerstände aus der Gesellschaft erlebt. Was hat euch geholfen?
Ich habe gelernt, manche biblischen Texte neu zu lesen. Vor allem der 1. Petrusbrief ist mir da sehr wichtig geworden: Es ist nicht ungewöhnlich, wenn uns Widerstände heimsuchen und wir merken, dass die Feindseligkeit gegenüber dem christlichen Glauben in unseren westlichen Gesellschaften zunimmt. Sobald man die globale Perspektive einnimmt, merkt man: Widerstände sind tatsächlich nicht ungewöhnlich!
Es ist kein Ausnahmezustand.
Nein. Es ist nicht das «new normal», sondern eigentlich das «normal normal». Was erstens hilft, ist die Perspektive vom Evangelium: Wir folgen einem Herrn, der durch Leiden in die Herrlichkeit getreten ist. Wenn wir von Nachfolge sprechen – Petrus nennt das «in den Fussstapfen von Jesus unterwegs sein» – dann ist das der Weg, der uns vorgezeichnet ist. Das macht ihn nicht leichter und weniger schmerzhaft. Aber Christus hat diese Widerstände bis ans Kreuz durchexerziert, erduldet, erlitten für uns. Je tiefer wir davon erfasst sind, desto mehr sind wir in der Lage, auch standhaft und widerstandsfähig zu sein.
Zweitens ist unsere Beschäftigung mit der verfolgten Gemeinde essenziell. Nicht nur, weil es diese Brüder und Schwestern verdient haben, dass wir für sie einstehen. Sondern weil wir diese Geschichten brauchen als formatives Werkzeug für unsere Herzen, aber auch für unsere Muskulatur. Mit einer grossen Portion Demut sage ich: Meine Generation, und vielleicht auch die nachfolgende, muss sich daran erst gewöhnen. Da fehlen uns an Stellen die «Muskeln», die wir unter Umständen in Zukunft brauchen.
Nehmen wir an, ich bin Mitglied in einer Gemeinde, die ihren Auftrag nicht so klar sieht. Was kann ich beitragen, damit ein Aufbruch möglich wird oder geschieht?
Unser Anliegen (mit dem Buch) ist, an Leitungskreise heranzutreten und ihnen deutlich zu machen: Es ist ihre Verantwortung, an dieser Stelle Freiräume des Betens und des Denkens zu schaffen, damit solche Prozesse in Gang kommen für die Gemeinde. Das hat viel mit Prioritätensetzung zu tun. Was ist wirklich unser Auftrag? Wozu sind wir da? Wie ist unser Blick auf die, die draussen sind? Drehen wir uns wie ein Karussell nur noch um uns selbst? Auf ein fahrendes Karussell aufzuspringen, ist mitunter ziemlich schmerzhaft bis unmöglich. Aus diesem Karusselldenken müssen wir rauskommen und Leute in den Blick nehmen, zu denen Jesus uns sendet.
Da bin ich wieder beim Evangelium: Wenn ich vom Evangelium tief erfasst bin – das, was Jesus für mich aufgegeben hat in Selbstlosigkeit – das führt uns zu einer Haltung, die den anderen, denjenigen, der nicht so ist wie wir, in den Blick nimmt. Das scheint mir ein erster grundsätzlicher Schlüssel zu sein. Er bringt uns dazu, leidenschaftlich zu beten, dass Menschen zum Glauben kommen, und dann den einen oder anderen praktischen Schritt zu tun.
Philipp, vielen Dank fürs Gespräch!