Was bedeutet eigentlich Gottesdienst?

Sammlung und Sendung

Jesus hat gesagt, dass Er nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und Sein Leben zu geben als Lösegeld für viele (Markus 10,45). Zur Eröffnung des Passah­festes, in dessen Rahmen Jesus das Abendmahl eingesetzt hat, hat Er Seinen Jüngern die Füsse gewaschen – eine Sklavenarbeit (Johannes 13,1–20)!

Petrus wollte es umkehren: «Nicht Du sollst mir dienen, sondern ich will Dir dienen!» Doch Jesus sagte zu ihm: «Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir.» Erst nachdem sich die Jünger hatten dienen lassen, forderte Jesus sie auf: «Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.»

Sich von Gott dienen lassen und dann selbst ein Diener Gottes und der Menschen werden: Für diese beiden Richtungen des Dienens gibt es die Bezeichnungen «Sammlung» und «Sendung». Ein Gottesdienst beginnt als Sammlung und endet als Sendung. Wir werden von Gott eingeladen, wir haben Gemeinschaft mit Ihm, wir empfangen von Ihm Wort und Geist, alles, was wir zum Leben und Glauben brauchen, und wir werden von Ihm gesendet und gesegnet. In der FMG Uster haben wir darum vor mehreren Jahren in einem Gottesdienst-Seminar zwei Dinge beschlossen: Erstens gehört im Gottesdienst das erste und das letzte Wort Gott. Es beginnt mit einem Sammlungsvers und endet mit Sendung und Segen. Zweitens soll der Gottesdienst ein Gespräch der Gemeinde mit Gott sein: Wort und Antwort. Wort: Schriftlesungen, Bibelworte, Predigt. Antwort: Gesang, Gebet, Bekenntnis, Zeugnis.

Ein Gottesdienst beginnt als Sammlung und endet als Sendung.

Benjamin Kilchör

«Wir heissen Jesus mit einem Applaus willkommen!» Solche Gottesdienst-Eröffnungen haben mich schon als Teenager zum Nachdenken gebracht: Wer ist eigentlich Gastgeber und wer Gast im Gottesdienst? Laden wir Ihn ein oder hat Er uns eingeladen? Und weiter: Was bedeutet eigentlich «Gottesdienst»? Wer dient wem? Ist es der Dienst Gottes an uns oder unser Dienst für Gott?

Wohin sammeln wir uns?

Hebräer 12,22–24 sagt es uns: «Ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln, und zu der Versammlung und Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abels Blut.»

Friedrich Schleiermacher, ein Vater der sog. liberalen Theologie, hat einmal formuliert, die Kirche bilde sich «durch das Zusammentreten der einzelnen Wiedergeborenen zu einem geordne­ten Aufeinanderwirken und Miteinanderwirken.» Alles ist hier menschliche Initiative. Leider ist heuzutage das Gottesdienst-Verständnis oft sehr nahe bei dieser Auffassung. Jesus wird dann einfach noch als Ehrengast zu unserer Veranstaltung eingeladen.

Teilhabe am himmlischen Gottesdienst

Wenn wir aber Hebräer 12 oder Offenbarung 4 und 5 lesen, ist es befreiend zu entdecken, dass Gottesdienst auch ohne uns stattfindet. Es gibt einen ewigen, himmlischen Gottesdienst. Schon als Mose den Auftrag bekommt, die Stiftshütte zu bauen, sieht er zuerst das himmlische Vorbild (2. Mose 25,8.9). Damit wird deutlich: Der irdische Gottesdienst ist Abbild des himmlischen Gottesdienstes, und mehr noch: Wer eintritt in diesen von Gott geschenkten Raum, der tritt in die Wirklichkeit der himmlischen Welt ein mit vielen tausend Engeln, mit denen, die uns im Glauben vorausgegangen sind, und vor allem in die Gegenwart Jesu Christi. Dem kann man im Gottesdienst beispielsweise Ausdruck geben, indem man die Lieder singt, die im Himmel gesungen werden: «Heilig, heilig, heilig» (Jesaja 6,3 und Offenbarung 4,8) und «Du bist würdig», «Würdig das Lamm» (Offenbarung 5,12.13).

Der irdische Gottesdienst ist Abbild des himmlischen Gottesdienstes.

Wenn wir im Gottesdienst in den Raum des himmlischen Gottesdienstes eintreten, dann bedeutet dies auch, dass wir mit der weltweiten Gemeinde verbunden sind, die in ihren je lokalen Gottesdiensten ebenfalls in den himmlischen Gottesdienst eintritt. Der Gottesdienst verbindet uns mit der weltweiten Christenheit. Dieses Bewusstsein können wir verstärken und aktiv pflegen, indem wir beispiels­weise das «Unser Vater» gemeinsam beten, das weltweit in Gottesdiensten gebetet wird, indem wir in der Fürbitte für die weltweite Gemeinde einstehen, oder auch indem wir eine Kollekte für die Mission sammeln.

Sich unter einem offenen Himmel sammeln

Der Gottesdienst ist in gewissem Sinne ein vorübergehender «Rückzug» aus der Welt und aus dem Alltag, eine Sammlung der Gemeinde in der himmlischen Wirklichkeit. Das ist kein Selbstzweck, sondern wir sollen damit für den Alltag und die irdischen Angelegenheiten eine himmlische Perspektive bekommen, damit wir dahin zurückkehren und nicht «jeder tut, was ihn selbst recht dünkt» (Richter 17,6) – denn «der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an» (1. Samuel 16,7) –, sondern «damit wir wandeln in den guten Werken, die Gott zuvor für uns bereitet hat» (Epheser 2,10). Der Gottesdienst soll darum gerade nicht die Welt abbilden, sondern er soll uns in eine Gegenwirklichkeit zum Alltag hineinnehmen. Nicht die Gottesdienste sollen immer mehr so werden wie der Alltag, sondern der Alltag soll vom Gottesdienst her geheiligt werden, damit das ganze Leben zum Gottesdienst wird (Römer 12,1.2).

Nicht die Gottesdienste sollen immer mehr so werden wie der Alltag, sondern der Alltag soll vom Gottesdienst her geheiligt werden.

Jesus Christus – die Mitte des Gottesdienstes

Die Mitte des Gottesdienstes aber ist nicht die Predigt, sondern Jesus Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene. Die Gemeinschaft mit Ihm, die in besonderer Tiefe im Abendmahl stattfindet, gibt allem seine Bedeutung. Denn in Jesus ist das Himmlische nicht nur als Abbild nachgebaut worden (wie die Stiftshütte), sondern selbst Fleisch geworden (Johannes 1,14). Er ist «mehr als der Tempel» (Matthäus 12,6). Obwohl wir in diesem Leben «fern von Ihm» sind und «im Glauben, nicht im Schauen» wandeln (2. Korinther 5,7), ist die Abendmahls-Gemeinschaft eine «Gemeinschaft des Leibes» (1. Korinther 10,16). Dabei geht es nicht darum, dass das Brot, sondern dass die Gemeinde in den Leib Jesu verwandelt wird. Durch Seinen Geist sind wir mit Ihm verbunden als die Glieder Seines Leibes (1. Korinther 12,12.13).

Ich wünsche mir, dass wir dies in unseren Gottesdiensten ganz neu entdecken können.

Impulse zur persönlichen Umsetzung
Sich der geistlichen Dimension bewusst werden. Schon zuhause bereite ich mich auf die Begegnung mit Jesus als Mitte des Gottesdienstes vor.
Aufnahmebereit werden. Jesus will mir dienen, vielleicht auf eine andere Weise, als ich es gerade erwarte.
Sich senden lassen. Ich nehme das im Gottesdienst Empfangene, um anderen Menschen damit zu dienen.
Benjamin Kilchör (*1984) ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er ist Mitglied der FMG Uster und Professor für Altes Testament an der STH Basel.