Loading

Hoffnung für die Kirchen in der Schweiz

Andi Bachmann-Roth

Zur Situation der Kirchen in der Schweiz

In unserem Städtchen steht die Kirche noch mittendrin. Laut hörbar wird am Samstag um 17 Uhr der Sonntag eingeläutet. Der eindrückliche akustische und bauliche Auftritt wird von der Bevölkerung durchaus akzeptiert. Klang und Kirche gehören schliesslich zum Stadtbild und zum kulturellen Erbe. Auftritt der Kirche und ihre gesellschaftliche Bedeutung stehen jedoch in krassem Gegensatz: Sonntags herrscht in der Kirche gähnende Leere. Über Jahrhunderte stand sie als wichtige religiöse, soziale und gar politische Instanz im Zentrum der Gesellschaft. Niemand kam an der Kirche vorbei. Heute erscheint die Kirche als folkloristische Hülle aus längst vergangener Zeit. Augenreibend finden wir Christen im Westen uns am Rand der Gesellschaft wieder.

Die Kirche steht noch im Dorf, aber sie ist leer

Vor 50 Jahren gehörte beinahe jede Schweizerin oder jeder Schweizer der katholischen (46,7 Prozent) oder der reformierten (48,8 Prozent) Kirche an. Lediglich 1,2 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung waren ohne konfessionelle Zugehörigkeit. 2021 ist die Zahl der Konfessionslosen auf 32,3 Prozent angewachsen (Quelle: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/sprachen-religionen/religionen.html). Die Frage der konfessionellen Zugehörigkeit zeichnen jedoch kein präzises Bild. Eine Nationalfonds-Studie untersuchte 2011 die religiöse Landschaft in der Schweiz (NFP58: https://www.snf.ch/de/p8vthllTlA7nzwm1/seite/fokusForschung/nationale-forschungsprogramme/nfp58-religionsgemeinsschaften-staat-gesellschaft). Dabei wurde nicht nach religiöser Zugehörigkeit, sondern nach dem tatsächlich gelebten Glauben gefragt. Obwohl 2⁄3 der Bevölkerung nach wie vor einer offiziellen Religionsgemeinschaft angehören, können nur 16,2 Prozent als «institutionell zugehörig» oder «hochreligiös» bezeichnet werden. Diese Minderheit engagiert sich in der Kirche, nimmt aktiv am religiösen Leben teil und teilt die Glaubensüberzeugung ihrer Kirche. Der Rest der Gesellschaft ist sehr heterogen. Einige sind der Kirche distanziert-positiv zugewandt, andere finden ihren Sinn in alternativen (esoterischen) Angeboten oder stehen allem Religiösen offen ablehnend gegenüber. Die Säkularisierung ist in der Schweiz und dem umliegenden Europa in hohem Tempo vorangeschritten.

Während die Landeskirchen einen massiven Rückgang verzeichnen, konnten die Freikirchen ihre Mitgliederzahlen halten. Das hat einerseits damit zu tun, dass es in Freikirchen viele Kinder gibt und die Glaubensvermittlung an die nächste Generation offenbar gut funktioniert. Andererseits wird die biblische Botschaft in zeitgemässen Formen vermittelt (Mehr dazu: Stolz, Jörg; Favre, Oliver; Gachet, Caroline; Buchard, Emmanuelle; 2014: Phänomen Freikirchen. Analysen eines wettbewerbstarken Milieus. Zürich: Pano Verlag). Aber auch hier muss das Bild differenziert betrachtet werden: Klassische und konservative Freikirchen schrumpfen tendenziell, während charismatische eher wachsen. Alles in allem gebe es aktuell aber wenig Anlass zur Euphorie, meinen Stefan Schweyer und Philipp Bartholomä im eben erschienenen Buch «Gemeinde mit Mission» (2023). Kirchen wachsen meist nur durch Transfer von einer Kirche zur anderen oder durch Immigration.

Orientierungssuche

Charles Taylor, ein kanadischer Politikwissenschaftler und Philosoph, beschreibt unsere westliche Gesellschaft als erfahrungsorientiert, pluralistisch, individualistisch und skeptisch gegenüber absoluten Wahrheitsansprüchen (Dazu eine Zusammenfassung in: Bartholomä, Philipp; Schweyer, Stefan; 2023: Gemeinde mit Mission. Damit Menschen von heute leidenschaftlich Christus nachfolgen. Giessen: Brunnen Verlag. S. 36f). Nur wenige Leute stellen sich heute noch grundlegende Sinnfragen. Typisch sei heute ein «ahnungsloser, veralltäglichter, zur Gewohnheit gewordener Atheismus» (Hans Joas). Das Problem sei nicht einmal nur das negative Image der Kirchen, sondern der konturlose Relativismus, der grundsätzliche Verlust der Transzendenz, so Schweyer und Bartholomä (S. 102). Dennoch suchen die Menschen weiter nach Sinn, aber nur selten in der Kirche. Trotz allem bin ich überzeugt, dass diese Zeit voller Chancen ist. Warum hat die Kirche ihre beste Zeit noch vor sich?

Eine Zeit voller Möglichkeiten

Auch wenn die statistischen Zahlen nicht gerade optimistisch stimmen, sehe ich viele verheissungsvolle Entwicklungen und Möglichkeiten. Gerne teile ich vier recht lose Beobachtungen, die mir für Aufbrüche und Erneuerung zentral scheinen.

  1. Die Zukunft gehört einer Kirche, die von der Bewahrung zur Mission gelangt (Stuart Murray). Es gibt die christlich geprägte Kultur nicht mehr, welche Menschen sozusagen von selbst in die Kirchen spült. Kirche muss sich neu den Menschen zuwenden und voll Glaube, Hoffnung und Liebe von Jesus Christus Zeugnis ablegen. Wie Mission heute gelingen kann, ist ein Schlüsselthema für uns als Evangelische Allianz. Wir sollten Mission neu als gemeinsame Aufgabe begreifen. Der Auftrag ist für Einzelne zu gross. Gemeinsam können wir den Lahmen zu Jesus tragen, so wie die vier Freunde in Markus 2. Ich träume von Netzwerken von Christen, Kirchen und Werken, welche sich gemeinsam für die Menschen vor Ort einsetzen.
  2. Die Zukunft gehört dem gewählten Glauben (Alexander Garth), wie er in Freikirchen schon lange praktiziert wird. Mit dem Niedergang der Kirchen ist auch der gesellschaftliche Druck gewichen. Niemand muss heute mehr glauben. Wer Christ wird, macht dies aus einer inneren Überzeugung und Motivation heraus. Das ist eine grossartige Chance, da Nachfolge dadurch lebendig und glaubwürdig wird. Der Glaube kann nur gewählt werden, wenn er als geeignete Option präsentiert wird. Auf dem Markt der Weltanschauungen dürfen wir uns selbstbewusst einbringen: Ein Leben mit Jesus ist entscheidend für ein gelingendes Leben. Dieser universelle Wahrheitsanspruch des Christentums provoziert. Entscheidend ist vor allem, wie wir diesen Anspruch erheben. Gerade als Nachfolger Jesu tun wir das respektvoll, ohne Gewalt und im demütigen Bewusstsein, dass unsere Erkenntnis Stückwerk ist.
  3. Die Zukunft gehört einer Spiritualität der Aufmerksamkeit. Kirchen sollten die digitale Entwicklung nicht verschlafen. Doch für unser Glaubensleben kann das permanente Online-Sein und die Zerstreuung fatale Folgen haben. Die ständige Beschleunigung lässt unseren inneren Menschen sterben. Christen haben über die Jahrtausende Formen des Glaubens entwickelt, die wir heute wieder neu entdecken sollten: Stille, Kontemplation und gemeinsames Hören auf Gott. Darin liegt ein besonderer Schatz für unsere Zeit – jenseits der populären Worship-Kultur.
  4. Die Zukunft gehört lokalen Lebensgemeinschaften. In einer Zeit grosser Einsamkeit kann in Häusern ein Ort gesellschaftlicher Wärme geschaffen werden – ein gemeinschaftlicher Glaube, der mitten im Alltagsleben verankert ist. Ein Glaube, bei welchem Beruf, Familie und Gebet sich ganz natürlich verbinden. Ein Glaube, der für die Menschen in der Nachbarschaft Hände und Füsse bekommt. Ich freue mich über zahlreiche Gemeinschaften unterschiedlicher Form und Intensität. Diese müssen keine Kirchen ersetzen, sondern ergänzen diese als kleine, lokale Saatbeete einer neuen Welt (Graham Tomlin).
Stille, Kontemplation und gemeinsames Hören auf Gott. Darin liegt ein besonderer Schatz für unsere Zeit.

Fazit

Ich schaue voll Hoffnung auf die Kirchen in der Schweiz. Gott hat sich entschieden, Sein Heil durch Seine Gemeinde in die Welt hineinzutragen. Und Er ist damit noch nicht fertig. Im Besonderen freue ich mich über die vielen Christen, die aus Kulturen zu uns kommen, in denen der Glaube aufblüht oder nur im Geheimen gelebt werden kann. In beiden Fällen können wir viel von diesen Menschen lernen. Wir haben zudem die grosse Chance, uns gerade jetzt mit jenen Christinnen und Christen zu verbinden, denen die Nachfolge Jesu und der Missionsauftrag ernst ist – fernab von konfessionellen Etiketten. Lasst uns gemeinsam die Verheissung entdecken, die auf dem Miteinander der Christen liegt!

Andi Bachmann-Roth , Theologe Mth (Master of Theology), Co-Generalsekretär der SEA. Andi ist verheiratet mit Christina. Gemeinsam haben sie vier Kinder.